: Rasende Teilchenbeschleunigung
Aufwiedaluegi! Notizen vom Experimentalfilm- und Videofest „Viper“ in Luzern / Neues von Haroun Farocki, Bill Viola und vielen, vielen anderen. Fazit: Mit gefundenem Material wird sehr viel subtiler umgegangen ■ Von Mariam Niroumand
Wer am frühen Morgen in Luzern ankommt, ertappt sich dabei, auf Zehenspitzen über die große Flußbrücke gehen zu wollen. Es ist so still hier. Womöglich weckt man irgendwen mit seinem trampeligen Großstadtschritt. Es grüßen See und Berge. Schlagzeile der Lokalzeitung: „Knacknuß bleibt das Parlament.“ Nüsse, Pilze, Äpfel, Käse und viel Wild – das Essen bleibt die ganze Zeit hindurch irgendwie so wäldlich. Niemand regt sich groß auf; in der Schweiz hat man das angenehme Gefühl, ist man erst einmal Staatsbürger geworden, werden einem keine weiteren großen Leidenschaften abverlangt. Die Uhren ticken regelmäßig.
Während du schliefst, Luzern, fand unweit der Fußgängerzone das sechzehnte „internationale Film-, Video- und Multimedia-Festival Luzern“ statt. Es nennt sich kurz „Viper“, weil man den Luzerner Frieden, so berichten die Eingeborenen, nach einiger Zeit zu hassen beginnt. Für die Dunkelheit gibt es nur eine einzige Straße nahe dem Kornmarkt, in der ein paar Junkies stehen. Die sagen aber auch höflich: Aufwiedaluegi!
„Viper“ paßt auch, weil die Filme und vor allem die Videos, die hier präsentiert werden, in ihren besten Stunden vor allem von der raubtierhaften Aneignung bereits vorhandenen Materials leben. So hat Jürgen Reble, der sich gemeinhin mit der Dekomposition von Industriefilmen beschäftigt, bei einem Besuch in der Hamburger Teilchenbeschleunigungsanstalt DESY nicht ohne eine gewisse klammheimliche Freude festgestellt, daß die Physiker dort schon seit Jahren nicht mehr Herr im eigenen Haus sind. Die Teilchen führen ein Eigenleben, welches weder sichtbar zu machen noch in ein System zu bringen ist, jedenfalls in kein uns bekanntes. Entsprechend wird mit computergenerierten Modellen versucht, Verhalten und Umlaufbahn von Gravitonen, Protonen, Elektronen und so weiter zu kopieren. Der Apfel fällt nicht weit vom Mandelbaum: Reble wollte ihnen, alter Chaos-Theoretiker, der er ist, beweisen, daß sie, ob sie nun wollen oder nicht, in diesem Prozeß nichts anderes hervorbringen können als – Kunst. „Instabile Materie“ folgt den Partikeln auf der Filmemulsion, kristallinisierte Salze, mit Farbstoffen angereichert, lassen orangene Explosionen, etwas wie Fischschwärme, Sternennebel, Schlangen sehen. In den siebzig Minuten dieses 16 mm-Films sieht man nur ein einziges Mal etwas wie gesteuerte Aktion: Reble hat ein paar Sekunden Aufnahmen von einem im Meer herumtreibenden Tintenfisch unter seinen Sternenhimmel gelegt. Ich dachte, es sei ein Dinosaurier gewesen. Seltsame Melancholie. Ob sie in anderen Galaxien solche Bilder von uns sehen?
Der Brite George Barber wiederum hat in „Passing Ship“ zunächst Aufnahmen aus amerikanischen Katastrophenfilmen versammelt, aber nicht irgendwelche x-beliebigen, sondern den präzisen Moment der Havarie: Jack Lemmon, Candice Bergen und die junge Merylin French tauchen auf, plus die Insignien der Katastrophe, in denen sich herausstellt, wer die Menschen um dich herum eigentlich sind. Schwarze Bullaugen, Schweißperlen auf der Stirn, zum Schrei aufgerissene Münder und fieberhaft erarbeitete Notkonstrukte. Plötzlich zieht, in allen Filmbeispielen, ein fremdes Schiff heran. Rettung! Bis hierhin läuft das Ganze noch unter Jux, die Montage der Aufnahmen ist lustig, weil man die Konventionen des Genres bis in die dirigierten Blickrichtungen der Panikaugen hinein verfolgen kann. Dies alles gibt es auf der linken Bildhälfte. Rechts sieht man den Herrn Regisseur in der Badewanne liegen, der uns einen Bericht von seinem Flugzeugabsturz über dem Atlantik abgibt Der Ton bleibt weiterhin lustig, aber dann erzählen beide Seiten davon, daß das Schiff, das retten sollte und doch so nah war, einfach weiterfuhr. „Wie hätten sie auch wissen sollen, daß wir hier sind?“ ruft Bergen verzweifelt. Ob die aus den fremden Galaxien auch einmal so an uns vorbeitreiben werden?
Haroun Farocki zitierte in „Schnittstelle“ zunächst Videoaufnahmen eines rumänischen Kollegen von dem Moment, als Nicolai Ceaucescu seine letzte Ansprache hielt, bei der er von etwas unterbrochen wurde, was er vor sich sah, was aber dem Fernehzuschauer verborgen blieb. Als er nicht mehr weitersprach, brach die Übertragung ab, und zu sehen blieb lediglich der Hinweis: „Liveübertragung“. Der Kollege schwenkte dann auf die Straße, auf der der Grund für Ceaucescus Unruhe zu sehen ist: eine Demonstration. Es geht Farocki um die Unterschiede in der Redaktion von Video- und Filmmaterial: Videoschnittstellen zeigen zwei Bilder im Gegensatz zum Film. Als er dann Ausschnitte aus eigenen frühen Filmen zeigte, zum Beispiel seinem „Vietnamfilm“, bei dem er einen Vortrag über die Wirkung von Napalm mit dem Ausdrücken einer Zigarette auf seinem Arm demonstrierte, wurde auch ein Anliegen deutlich: Früher kommentierte der Text, heute kommentiert ein Bild ein anderes: Voilà, die Definition von Schnittstelle!
Ingesamt ist der Umgang mit gefundenem Material subtiler geworden. Nirgendwo wird das so deutlich wie in der experimentellen Pornographie. Dietmar Behm, Filmemacher aus der österreichischen Gruppe Sixpack, hat japanisches, russisches, amerikanisches und eigenes Material so bearbeitet, daß die Akteure ein bißchen wie Untote erscheinen, schöne weiße Untote. Ein weibliches Geschlecht, eine Vogelspinne, keine Misogynie! Es sind schöne Vogelspinnen. Alle machen an Körperteilen herum, von denen man kein Ganzes kennt, aber das wird nicht als anonyme Mechanik denunziert, sondern den schönen Untoten als ihr Geheimnis überlassen. Merke: in den Sex anderer Leute kann man nicht wirklich eindringen. Dazu hört man, wie jemand sich naß rasiert.
Über die Reuss, Luzerns Hausfluß, geht die Spreuer-Brücke. Ein Barockmaler hat auf ihre hölzerne Decke Bilder vom Totentanz gemalt: Aristokraten, Bauern, Männer und Frauen, ringen mit luziferischen Gesellen. Luzifer-Luzern? Zufrieden gehen die Leute unter diesen Bildern her: Sie nehmen sich heute niedlich aus, von unten plätschert es sanft, und keine Pest sucht die Stadt heim (auch keine islamischen Sarazene, die wurden im Mittelalter zurückgeschlagen).
Luzern soll ein Wunderkind sein. Zum Ende des römischen Reiches, als Sankt Bernadictus noch lebte, sahen einige unter dem Berg ein „Feuer, das nicht brennt“, ein Licht, Luzern, und scharrten sich darum. Im Mittelalter hielt sich die Stadt für eine Bastion des Christentums, für Pioniere gebaut. Sollen sogar eine moderne Straßenbeleuchtung gehabt haben, lange bevor man so etwas in Zürich kannte.
„Sternenschauer“, „Superstars“ und schließlich noch ein Blitz von Bill Viola – Daniel Huber, der Kulturbeauftragte des Kantons, kam zur Abschlußfeier vorbei und strahlte glücklich. Klar: Lumière, Luzern, luzid, alles leuchtet.
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