Eine Hydra mit neun Köpfen

Lettlands Volksfrontgründer und ehemaliger „rolling Ambassador“ Mawriks Wulfsons, mit den Spitzenpolitikern der Welt auf du und du, will mit 77 Jahren noch einmal ins Parlament. Obwohl man dort nur Zeitung liest  ■ Aus Riga Barbara Kerneck

Kommen Sie um zwei Uhr mittags, aber rechnen Sie nicht damit, bei mir zu essen“, sagt Mawriks Wulfsons barsch am Telefon. Er bleibt auch abweisend, nachdem ich aus dem Rigaer Hinterhof viele Treppen zu seiner Altbauwohnung unter dem Dach emporgestiegen bin. Hier lebt er mit Tochter und zwei Enkelinnen, seit seine Frau vor wenigen Jahren starb. Die beiden Söhne arbeiten zur Zeit im Ausland. Was hilft es, ich bin zu Besuch bei einem Monument. Der heute 77jährige große, schlanke Mann mit den hell ausgeblichenen Augen forderte 1988 als erster öffentlich die Unabhängigkeit Lettlands und erkämpfte ihre internationale Anerkennung 1991 als lettischer Sonderbotschafter. Mit den Spitzenpolitikern der Welt steht er auf du und du. Nach einstündiger Bekanntschaft drängt sich der Verdacht auf, daß sie sich gern von ihm amüsieren lassen. Drei Stunden später habe ich Kaffee und Borschtsch verdrückt. Wulfsons scharrt lieber unter seinen Papierstapeln nach Kippen, denn er hat viel zu erzählen.

Dieser Weltbürger spricht ein altmodisches, singendes, fließendes Deutsch. Im Riga seiner Jugendzeit unterhielten acht verschiedene Nationalitäten Schulen. Der Jude Wulfsons besuchte eine deutsche und eine lettische. Bei den Wahlen zum lettischen Parlament Anfang Oktober dieses Jahres hat Wulfsons für die Partei der Volkseintracht kandidiert. „Nur so zum Spaß“, sagt er und erwähnt aus diesem Anlaß die polyglotte Tradition der Familie: „Wenn mich jemand fragt, warum ich in meinem Alter so etwas mache, dann antworte ich: Meine Mutter, eine Warschauerin, wurde einundneunzig. Bis zu ihrem neunzigsten Lebensjahr mußte ich ihr polnische und ausländische Zeitungen kaufen. Falls ich ihr nachgeraten bin, kann ich ruhig noch drei Legislaturperioden in unserem Parlament sitzen, denn die machen dort nichts anderes als Zeitung lesen.“

Mit einem Husarenstreich berühmt geworden

Sein Deutsch kam dem jungen überzeugten Kommunisten im Zweiten Weltkrieg zustatten. Während er seine Frau, ebenfalls Jüdin, und das erste Kind vor den Nazis versteckte, wurde er mit einem Husarenstreich in Lettland berühmt. Er setzte sich auf die Rundfunkfrequenz der Deutschen und imitierte glaubwürdig den „Korrektor“ der deutschen Artillerie: „Ich ließ sie ins Niemandsland schießen oder auf ihre eigenen Positionen, auch auf mich selbst, wenn ich von russischen Panzern gedeckt war.“

Nach dem Kriege begann der junge Mann seine Laufbahn als Redakteur bei lettischen Tageszeitungen und „Dozent für Geschichte der KPdSU“ an der Rigaer Akademie der Künste. Von seinen damaligen Artikeln sagt er heute: „So linientreu wie die von anderen, aber wohl leichter zu verdauen, da ich immer ein Liberaler und Draufgänger gewesen bin.“ Wulfsons schrieb gegen die sowjetischen Interventionen in Ungarn und gegen Israel. Für letzteres hat er sich später im israelischen Rundfunk entschuldigt.

Die „Geschichte der KPdSU“ machte er zum beliebtesten Fach an der Rigaer Akademie der Künste. Zu Beginn jeder Einführungsvorlesung stapelte er Lenins gesammelte Werke auf und sagte: „In allen diesen Bänden polemisiert Lenin gegen seine Feinde. Sie können sich also ausrechnen, wie viele Feinde er hatte.“

Wirklich zum Ketzer wurde der Professor erst mit siebzig. Am 2. Juni 1988, anläßlich eines Treffens der lettischen Intellektuellen, bezeichnete Wulfsons als erster öffentlich die Annektion Lettlands durch die Russen als „Okkupation“. „Am Ende der Rede habe ich noch gesagt, daß von allen Völkern Lettlands die Juden am meisten gelitten haben. Auf mich kam der sowjetische Innenminister und spätere Putschist Boris Pugo zu und sagte: ,Weißt du, was du gemacht hast, du hat dem sowjetischen Lettland den Todesstoß versetzt.‘ Auf dem Heimweg fühlte ich mich sehr bedrückt, denn natürlich war der eine gefährliche Figur. Aber als ich zu Hause angekommen war, hatten die LettInnen all die vielen Treppen zu mir hinauf mit Blumen bedeckt. – Da habe ich gedacht: Es hat sich gelohnt!“

Tage später gingen in Riga Zehntausende auf die Straße. Am 7. Oktober 1988 wurde die Volksfront gegründet. Im Vorstand lernte Wulfsons Janis Jurkans kennen, den späteren lettischen Außenminister, und ihre gemeinsame Arbeit begann. Es kam zu Szenen wie dem Spaziergang am Genfer See, bei dem Wulfsons den damaligen Unterhändler der UdSSR in Deutschland, Kwisinski, und den Berater des amerikanischen Präsidenten, Paul Nize, „verkuppelte“, wie er es nennt. „Damit sie sich auf eine Reduzierung der SS-20- und Tomahawk-Raketen einigten.“ Besonders schwärmt er von Hanna-Renate Laurien: „Wenn sie nicht gewesen wäre, hätten wir zum ersten Weihnachtsfest nach der Unabhängigkeit ohne Mehl und Gebäck dagesessen.“

Noch heute hilft Wulfsons vielen Menschen. An manchen Tagen stapeln sich die Pakete in seinem Vorraum bis zur Decke. „Es ist vielleicht eine Schwäche, die sich aus einer ganz alten linken Sentimentalität speist, daß ich so ein Elend nicht sehen kann“, kommentiert er. Die soziale Frage bezeichnet der Altlinke als Problem Nummer eins im heutigen Lettland. „Bei uns hungern 80 Prozent der Bevölkerung, vor allem geistig. Sie haben vielleicht gerade noch ihr Mittagessen, aber sie können sich kaum ein Buch leisten. Als Professor, Parteiexperte und Autor gelte ich schon als Mittelstand. Aber seit die schöne Zeit unserer Freiheit angebrochen ist, habe ich es mir nicht einmal erlaubt, einen Freund im Ausland anzurufen.“

Bevor er offiziell Botschafter wurde, gab Wulfsons noch ein Gastspiel im Obersten Sowjet der UdSSR. Sein Wahlkreisgegner war ein Kommandeur der russischen Interfronten, einer Organisation der rechtsnationalen und orthodoxen russischen Kommunisten in Lettland. „Es sah brenzlig aus, weil da russische Kasernen waren und er den Soldaten mitteilte, ich hätte schon Öfen gebaut, um sie zu verbrennen. Ich dagegen kam zu ihnen mit den hübschesten Studentinnen aus meiner Akademie. Aus Dankbarkeit wurde ich gewählt. – Nun, jeder hat so seine Trümpfe!“ Neue Fältchen kräuseln sich um seine vor Vergnügen gekrümmte Nase.

Im Obersten Sowjet schloß der Vertreter der lettischen Volksfront eine vorübergehende Freundschaft mit Michail Gorbatschow. Zum erstenmal gehört vom Vater der Perestroika hatte er viele Jahre vorher, noch zur Breschnew-Zeit, bei einem Urlaub in einem nordlettischen Fischerdorf. „Ich erntete mit meiner Kinderschar den Garten einer anscheinend unbewohnten Datscha ab. Da öffnete sich die Tür, und ein Mann fragte: ,Was machen Sie hier?‘ ,Das sehen Sie doch‘, antwortete ich, wir klauen Ihre Äpfel.‘ ,Das lohnt sich nicht‘, sagte er, kommt rein!‘“ Der Mann war Gennadij Ossipow, Direktor des Moskauer Instituts für Soziologie und Doktorvater von Raissa Gorbatschowa. Und beim Essen an jenem Abend muß er die spätere Rolle ihres Ehemannes ziemlich genau vorhergesagt haben.

„Später haben wir uns dann voneinander entfernt“, berichtet Wulfsons über seine Bekanntschaft mit Gorbatschow. „Ich rief den Generalsekretär vor den blutigen Ereignissen im Januar 1991 aus Riga an, und er ging nicht ans Telefon.“ Und noch ein Schlaglicht auf die Biographie Gorbatschows wirft mein Gastgeber. Zufällig nämlich hatte sich der ganz und gar nicht nationalistische Nationalheld Wulfsons 1991 für das Recht des Kommandeurs der Grenztruppen des Baltikums, eines Generalleutnants des KGB, eingesetzt, im außenpolitischen Ausschuß des Rigaer Parlaments die russische Sprache zu benutzen. „Dieser Mann aber“, erinnert sich Wulfsons, „half uns dann im allerkritischsten Moment.

Vier Tage vor dem Putsch in Moskau bat er mich, mit ihm eine Tasse Kaffee trinken zu gehen. Das war ein seltenes Schauspiel: Ein Volksfrontmann und ein Vertreter der Interfronten einträchtig in der Kantine. Er schwieg lange. Dann sah er auf seine Uhr und sagte: ,Jetzt ist es zehn Minuten vor zwölf. Um zwölf sollen ich und Kusmin [das war der Oberkommandeur der baltischen Front] nach Moskau abreisen. Mawriks, das ist vielleicht die letzte Tasse Kaffee, die wir zusammen trinken.‘ Ich rief sofort in Leningrad an“, fährt Wulfsons fort, „und bat den amerikanischen Generalkonsul zu kommen. Als er eintraf, teilte ich ihm mit, daß sich in den nächsten Tagen in Moskau etwas Außergewöhnliches ereignen werde. Er unterrichtete Baker und der dann Bush. Der amerikanische Präsident rief besorgt bei Gorbatschow in Foros an. Der aber sagte, daß er sich noch nie so sicher im Sattel gefühlt habe. Das war am Sonnabend vor dem Putsch, der in der Nacht zum Montag begann.“

Mit dem ehemaligen Außenminister Janis Jurkans und der „Partei der Volkseintracht“ setzt sich Wulfsons bis heute dafür ein, der russischsprachigen Minderheit im Lande entgegenzukommen. Als „großes Unglück“ bezeichnet er die gegenwärtige Praxis, RussInnen zu schikanieren – nicht zuletzt bei den Prüfungen zur Erlangung des BürgerInnen-Status: „Je länger wir die Russen im Lande am langen Faden zappeln lassen, um so mehr Gegner werden wir in jener Minute haben, in der es für uns wichtig sein wird, daß man uns nicht in den Rücken fällt.“

Ob Moskauer Nationalpatrioten die in Letten ansässigen RussInnen eines Tages als fünfte Kolonne mobilisieren könnten, darüber will mein Gastgeber lieber nicht spekulieren. „Haben Sie das denn nicht irgendwie im Gefühl?“ frage ich den Volksfrontgründer, aber er entgegnet: „Um diese Frage ohne Spionageapparat beantworten zu können, muß man dumm sein. Sie werden also bestimmt von vielen Politiken bei uns eine genaue Antwort darauf bekommen.“ Das Thema ist ihm unangenehm, aber er möchte mir auch nicht den Mund verbieten. Später entfährt ihm: „Ich wäre der erste, den sie erschössen, wenn russische Chauvinisten in Moskau an die Macht kämen und in Lettland einmarschierten.“

Seit Jahren Wegweiser für lettische Politik

Jetzt strebt Wulfsons Partei eine Koalition mit der Partei „Bewegung für Lettland“ des deutschen Rechtsnationalisten Joachim Sigerist und dem ehemaligen Gorbatschow-Berater Albert Kauls von der Einheitspartei an. Ob ihn das Streben nach „Bundesgenossen“ im allerkritischsten Moment unkritisch werden läßt? Möglicherweise überschätzt er seine Fähigkeit, andersdenkende Partner zu dominieren. Kein Wunder, hat er doch der lettischen Politik seit Jahren als Wegweiser gedient. Der orthodoxe lettische nationalkommunistische Führer Pelsche hat Wulfsons einmal eine Hydra mit neun Köpfen genannt: Wenn man einen abschlüge, wüchsen neun wieder nach.

Noch kann Wulfsons nicht zum Kiosk gehen, ohne daß RigaerInnen auf ihn zustürzten, die ihm Gesundheit wünschten. Nicht geliebt hat ihn die letzte, nationalkonservative lettische Regierung, die er gern als durch und durch korrupt beschimpft. „Sie haben Angst vor mir. Aber ich bin schwer totzukriegen. Schließlich verkörpere ich hier immer noch den örtlichen George Washington. Mit all denjenigen, die hier in den letzten Jahren regierten, habe ich auf allen Empfängen immer Seite an Seite gesessen. Sie werden mich einfach nicht los, sowenig wie ihren eigenen Zahnschmerz.“