Eine Stimme von fern und nah

Weil er ein Liebeslied am falschen Ort in der falschen Sprache gesungen hatte, mußte er ins Exil – der abenteuerliche Weg des kurdischen Musikers Nizamettin Ariç nach Berlin  ■ Von Barbara Eisenmann

Zu einer Zeit, als es in diesem Land noch eine Grenze gab, konnte es passieren, daß der Weg vom Osten in den Westen Berlins einem ein neues Leben bescherte. Unterwegs auf der von vielen Kurden benutzten Exilroute von Damaskus nach Stockholm mit Transitstopp im damaligen Ost-Berlin verschlug es Nizamettin Ariç und seine drei Begleiter mit ihren falsche Pässen am Kontrollübergang Berlin-Friedrichstraße direkt in die Hände der Ausländerpolizei am U-Bahnhof Kochstraße. Eigentlich hatten die drei bloß die Gelegenheit nutzen wollen, um dem Westen der Stadt einen kurzen Besuch abzustatten. Nun wurden sie vor die Wahl gestellt: Entweder Rückreise nach Syrien oder Einreise nach Westdeutschland. Ariç entschied sich für die zweite Möglichkeit und beantragte Asyl.

1956 wurde Ariç als Kind einer kurdischen Familie im türkischen Agri geboren. Daß es nicht leicht ist, Kurde zu sein, erfuhr er erst in der Schule. Schule, das war Dressur und die Lehrer Folterer. Das Kurdische wurde den Schülern ausgeprügelt, und ihnen wurde die Angst implantiert, damit sie sich wie ihre Eltern der türkischen Repressionspolitik willig fügen sollten. Die neu gelernten türkischen Wörter verfolgten das Kind. Monatelang, sagt Ariç, habe er „furchtbare Klänge im Kopf gehabt“. Daß das Kind singen konnte, wurde schon bald entdeckt. Im dritten Schuljahr gab Ariç seine ersten Konzerte als Solist. Er sang kurdische Lieder, und er sang sie auf türkisch. Seine Lektion hatte er gelernt.

Der öffentliche Gebrauch der kurdischen Sprache war von Atatürk verboten worden. Fortan sollte es keine Kurden mehr geben, nur noch „Bergtürken“, und für das Wort „Kurde“ ersann man eine lautliche Herleitung: Es komme, so die offiziell verbreitete Legende, vom Geräusch knirschenden Schnees. Nach siebzig Jahren der Unterdrückung kann die bloße Sensibilität für die kurdische Frage in der Türkei heute nach wie vor Haft, Folter und Tod bedeuten.

Nizamettin Ariçs Familie zog in die Stadt, in der Hoffnung, dort der ländlichen Armut zu entkommen. Ariç kam so noch als Kind nach Ankara. Er konnte hier als türkischer Musiker, Komponist und Schauspieler Karriere machen. Wie unsicher das Terrain für ihn aber blieb, mußte er erfahren, als er es eines Tages wagte, ein kurdisches Liebeslied auf einem Konzert auch in kurdischer Sprache vorzutragen. Die unerhörte Überschreitung wurde sofort geahndet, Ariç noch hinter der Bühne verhaftet. Ein Verfahren wegen „Separatismus“ wurde eingeleitet. Eine Haftstrafe von 15 Jahren drohte. Nach drei Tagen wurde er, wohl auch wegen seiner Popularität, auf freien Fuß gesetzt. Der schlagartigen Verwandlung vom geachteten Künstler zum Staatsfeind hinkte Ariçs Bewußtsein indes um einiges hinterher. Erst ein Jahr später wurde ihm der Ernst der Lage klar, und er ergriff die Flucht. Sein erstes Ziel war Syrien, schon zu Zeiten des Osmanischen Reichs Fluchtpunkt der Kurden.

Auf der Flucht entstanden bereits erste Ideen zu einem Film, erzählt Ariç und lacht bei der Erinnerung an die wohl abenteuerlichste seiner Reisen. Aber erst in Berlin schrieb er dann in Zusammenarbeit mit seiner Lebensgefährtin Christine Kernich das Drehbuch zu seinem Film „Ein Lied für Beko“, der 1992 in Venedig bei den Internationalen Filmfestspielen Weltpremiere hatte. Der Kurde Beko, dessen Rolle wohl niemand besser hätte spielen können als Ariç selbst, durchschwimmt dort auf der Flucht vor türkischen Soldaten den legendären Tigris. Kein Guerillero, kein kurdischer Volksheld, sondern einer, den türkische Willkür aus dem Land getrieben hat und dem die eigene Geschichte erst später begegnen soll, als er in einer Schlüsselszene des Films sich und seine Stimme wiederfindet und das kurdische Epos von Mem und Zin vorträgt.

In West-Berlin war Ariç auf kurdische Literatur und Geschichte gestoßen. Nicht der deutschen Sprache habe er sich zunächst zugewandt, erzählt er, sondern der kurdischen, von der er nur mehr rudimentäre Kenntnisse besaß. So wie das kleine Kind sie eben gesprochen hatte, noch bevor das türkische Bildungssystem ihm den Kodex des stolzen Türken einhämmern konnte. Bereits 1983 gab Ariç erste Konzerte mit kurdischer Musik und wurde musikalischer Mitarbeiter an einem vom Berliner Senat geförderten Theaterprojekt mit hier lebenden deutschen und ausländischen Künstlern. Sein Asylantrag wurde unterdessen abgelehnt. Erst als sich Schaubühne und SFB direkt an den damaligen Innensenator Lummer wandten, erhielt Ariç Asyl.

Wie ein Ethnograph stöbert er die Vergangenheit auf und findet in den Gesängen der Dengbêj, der traditionellen kurdischen Sänger, einen Zugang zur eigenen Geschichte. Türkische Zwangsassimilation und auch die westliche Medienkultur haben die Dengbêj ganz an den Rand gedrängt. Nur mehr wenige der alten Sänger seien am Leben, erzählt Ariç, und ihrer Stimmen versucht er vom deutschen Exil aus habhaft zu werden. Auf Tonträgern gespeicherte orale Fundstücke schickt man ihm von Kurdistan nach Berlin. Ariç arrangiert sie zu kunstvollen musikalischen Kompositionen, die sich zwischen der einen und der anderen Welt bewegen.

Das kollektive Gedächtnis Kurdistans lebt im Exil. Inzwischen hat sich ein klandestines Netzwerk etabliert, das dafür sorgt, daß die in Westeuropa entstandene kulturelle Gegenproduktion, vorwiegend von Kurden aus der Türkei, auch wieder zurückfindet in die kurdischen Gebiete. Ungeachtet des türkischen Medienmonopols ist Nizamettin Ariçs Stimme dort gut zu hören.

Auch hierzulande ist es beileibe nicht leicht, Kurde zu sein. Daß Ariç zwischen den Fronten steht, hat er nicht zuletzt bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig gemerkt. Zwar wurde der Film, der der erste kurdische Spielfilm und immerhin eine deutsch-armenische Koproduktion ist, dort als deutscher Beitrag prämiert – die deutschen Medien indes interessierten sich kaum dafür. Die anwesenden Türken verließen die Vorführung gleich zu Anfang, so als ob schon das Sehen eines kurdischen Films strafbar sei. Und zu guter Letzt wurde Ariç von seiten der PKK mitgeteilt, daß sein Film zwar künstlerisch interessant, „politisch jedoch tot“ sei. So wird im Exil schließlich auch die Heimat fremd.

Erst drei Jahre später hat sich in Deutschland ein Gremium gefunden, das Ariçs Film die fällige Anerkennung erweist. Am vergangenen Donnerstag wurde ihm der Civis-Preis, ein „Hörfunk- und Fernsehpreis zur Verständigung mit Ausländern“, verliehen.

In der Reihe „Exil Berlin“ bisher erschienen: Ein Porträt des algerischen Autors Mohamed Magani (taz vom 17. September).