Freispruch für „Timor und kein Trupp“

1993 besetzten sie drei NVA-Kriegsschiffe, die nach Indonesien exportiert werden sollten. Nun wurden zwei Dresdner Rüstungsgegner angeklagt. Doch der Prozeß endet mit Freispruch  ■ Aus Wolgast Detlef Krell

„1936 wurde das Gelände Peenemünde, welches seit 1282 der Stadt gehörte, für die Raketenforschung an die Wehrmacht verkauft. Mit dem Erlös wurden in der Stadt Wolgast die Be- und Entwässerungsanlagen im Zentrum finanziert.“

Geschichtsdarstellung im PR- Magazin der vorpommerschen Hafenstadt Wolgast. Kein Wort darüber, daß in Peenemünde die berüchtigte „V 2“, die „Vergeltungswaffe“ der Nazis entwickelt und produziert wurde. Über die Befreiung von der Hitlerdiktatur steht in der Hochglanzbroschüre lapidar: „Wolgast wurde kampflos durch die Rote Armee eingenommen und teilte das Schicksal aller von diesen Truppen besetzten Städte.“

Bei so viel Geschichtsbewußtsein ist es schon nötig, daß die Dresdnerin Johanna Kalex vom „Anarchistischen Arbeitskreis Wolfspelz“ vor dem backsteinernen Amtsgericht der Kreisstadt Flugblätter verteilt, auf denen wenigstens jene Vorgänge erläutert werden, die sich vor zweieinhalb Jahren in unmittelbarer Nachbarschaft der einstigen Nazi-Waffenschmiede ereigneten und die heute ein juristisches Nachspiel erfahren sollen:

Peenemünde auf der Halbinsel Usedom, Pfingsten 1993. Im ehemaligen Marinehafen der Nationalen Volksarmee der DDR dümpelt eine Batterie betagter Kriegsschiffe. Entgegen der wendeeuphorischen Zusage des Pfarrers und Abrüstungsministers der letzten DDR-Regierung, Rainer Eppelmann, sollen diese Schiffe nun doch nicht verschrottet werden. Das Regime des indonesischen Diktators Suharto interessiert sich für die schlachtreifen Kähne. Der Deal ist perfekt, entsprechende Kaufverträge sind vom Bonner Verteidigungsministerium und dem Regime in Jakarta schon unterzeichnet worden.

Doch bevor die Kriegsmarine auslaufen kann, werden drei der 39 Schiffe besetzt. 250 junge Leute aus Dresden, Halle, Berlin und anderen Städten der Ex-DDR kommen nach Peenemünde, um gegen den Verkauf zu demonstrieren. Das Ziel der Aktion erscheint auf breiten Transparenten an den Bordwänden: „Diese Schiffe bleiben hier bis zur Verschrottung!“ Das Polizeiprotokoll verzeichnet „Beschädigungen“. In der Kommandozentrale eines Kahnes sollen technische Apparaturen zerstört worden sein. Die Schiffe sind mit zwei Tauen am Kai befestigt. Als die Polizei räumen will, lösen einige Besetzer eines der Taue. Das Schiff driftet ein paar Meter ab. Das hätte für die Besetzer tödlich enden können, denn der Kahn hängt zusätzlich noch an einem Starkstromkabel. Nach mehreren Tagen endet die Protestaktion friedlich. Die Besetzer geben auf. Die Kriegsmarine läuft aus.

In der Folgezeit schöpfen die OrganisatorInnen der Aktion alle parlamentarischen Wege aus: Mit Unterstützung der Bundes- und Landtagsfraktionen von SPD und Bündnisgrünen werden sie bei den außen- und verteidigungspolitischen Sprechern aller Fraktionen und beim Petitionsausschuß vorstellig, es folgen Anfragen in Bundestag und sächsischem Landtag.

„Timor und kein Trupp“ nannte sich die Protestgruppe; eine doppelte Anspielung: einmal auf die Pflichtlektüre aller DDR-Kinder mit dem Titel „Timur und sein Trupp“ von Arkadi Gaidar. Es handelt zur Zeit des Bürgerkriegs in Sowjetrußland nach der Oktoberrevolution; verwahrloste Kinder werden darin zu Helfern der gerechten Sache, indem sie sich um alte Menschen kümmern. Zum anderen erinnert der Name an die vom indonesischen Regime annektierte, ehemals portugiesische Kolonie Osttimor. Der Terror gegen die dortige Bevölkerung hat bis heute über 250.000 Todesopfer gefordert.

„Timor und kein Trupp“, erklärt Ekki Forberg, einer der damaligen Organisatoren, „war ein breites politisches Bündnis von Gruppen, die alle aus der DDR- Opposition kamen.“ Im Januar vorigen Jahres hat „Timor und kein Trupp“ für seine Peenemünde- Aktion den Friedenspreis der Synode Oberhausen erhalten. Am Freitag sitzt Ekki mit anderen aus dem Timor-Trupp als Prozeßbeobachter im Wolgaster Gericht. Den beiden Dresdnern Ulf Thämelt (23) und Holm Vogel (29) wird der Prozeß gemacht. Die Anklage wirft ihnen im Zusammenhang mit den Peenemünder Protesten Landfriedensbruch im besonders schweren Fall, den gefährlichen Eingriff in die Seefahrt und Sachbeschädigung vor. Allein der besonders schwere Fall des Landfriedensbruchs kann mit einer Haftstrafe bis zu zehn Jahren geahndet werden.

Karin Graeger-Könnig von der Staatsanwaltschaft Stralsund wirft den beiden Dresdnern vor, „gemeinsam mit zahlreichen anderen, unbekannt gebliebenen Tätern“ einen „bedeutenden Schaden“ an der Kriegsflotte der NVA verursacht zu haben. Außerdem hätten sie durch „Ableinen eines Schiffes“ den Seeverkehr beeinträchtigt. Die kurzgehaltene Anklageschrift hat sie nicht selbst verfaßt. Graeger-Könnig muß für einen erkrankten Kollegen einspringen. Der hat wohl auch die Zeugen ausgewählt, allesamt Beamte und Angestellte der örtlichen Polizei.

Möglicherweise mußten diese Polizisten noch nie vor Gericht aussagen; fraglich ist, ob sie in der Polizeischule aufgepaßt haben, als das für Ordnungshüter wohl nicht ganz unwichtige Thema „Zeugenaussage“ durchgenommen wurde. Vielleicht irritiert es sie auch nur, daß sie auf dem einsam im Saal stehenden Lehnstuhl Platz nehmen müssen, von allen Seiten einsehbar bis auf die Socken. Zu einer brauchbaren Aussage über jene Peenemünder Pfingsttage ist jedenfalls keiner von ihnen in der Lage. Keiner von ihnen hat je einen der beiden Angeklagten zu Gesicht bekommen in diesen Pfingsttagen 1993. Keiner hat einen der Angeklagten in flagranti erwischt, geschweige denn zum Tatvorwurf vernommen.

Zwar bezeugt einer, er selbst wäre dabeigewesen, als „Personen vom Schiff verbracht“ wurden. Zerstörungen in der Kommandozentrale kennt der Polizist jedoch nur vom Hörensagen. Auf die Frage: „Haben Sie einen der Angeklagten gesehen?“ antwortet der Mann: „Nicht bewußt.“

Der nächste weiß von 60 bis 70 Personen, die an Bord gewesen sein sollen. Gesehen hat er nur 20 bis 30. Eine Personenkontrolle sei „aus polizeitaktischen Gründen“ abgebrochen worden. Immerhin seien BesetzerInnen „in Igelformation“ auf die Polizisten zugelaufen, hätten die Arme vor dem Gesicht verschränkt und die Ellenbogen wie Stachel aufgerichtet. Als ein Verteidiger wissen will, wie die Polizei das denn angestellt habe, weiteren DemonstrantInnen den Zugang zum Schiff zu verwehren und zugleich die bedrohlichen Igel zu observieren, meint der Zeuge, er habe das doch deutlich genug erklärt: „Soll ich es Ihnen mal aufzeichnen?“ „Ja, bitte, wenn Sie gern malen“, wird er zur Lageskizze ermuntert.

Eines aber weiß dieser Zeuge bis heute: „Auf diesen Schiffen war Kriegsgerät. Aber keine scharfe Munition.“ Das Bonner Rühe-Ministerium hatte immer wieder behauptet, die Kähne seien „teilentmilitarisiert“ und nicht als Waffen anzusehen. Die BesetzerInnen kannten schon damals ein Papier, das die Schiffsausrüstungen auflistete. Darin war von mehreren Tonnen Kriegsgerät die Rede, darunter großkalibrige Bordkanonen.

Der nächste Zeuge tritt vor. Er erklärt, er hätte „nur rein informativ“ von der Besetzung Kenntnis erhalten. Jetzt wird es auch der Staatsanwältin zu bunt: „Warum wurde dieser Mann denn überhaupt vorgeladen, wenn er mit der Sache nichts zu tun hat?“ Leider kann Richter Christoph Badenheim ihr die Frage nicht beantworten: „Das sind alles Zeugen der Anklage.“ Interessant wird die Aussage des Zeugen dennoch, auch wenn sie nichts mit dem Verfahren zu tun hat. Als Sachbearbeiter hätte er während der Polizeiaktion einen Ermittlungsauftrag auszuführen gehabt „für einen indonesischen Bürger“. Auf eine Nachfrage des Rechtsanwalts Wolfgang Kaleck gibt der Zeuge eine etwas verworrene Auskunft, die den Schluß zuläßt, daß noch während der Besetzung alle Schäden an den Kriegsschiffen direkt für die indonesischen Behörden protokolliert wurden. „Timor und kein Trupp“ horcht auf: Also doch, der heiße Draht zum Diktator. Wie im April diesen Jahres, als Suharto in Dresden gebührend empfangen wurde und sich der indonesische Geheimdienst anschließend für die Videobänder der sächsischen Polizei interessierte. Auf eine Kleine Anfrage im Landtag versicherte das Innenministerium, daß den Häschern „aus datenschutzrechtlichen Gründen“ keine Bänder übergeben wurden. Was nun mit der Anklage? Die Staatsanwältin läßt eine Polizistin vortreten, von der sie annimmt, daß sie die Namen der Angeklagten erstmals zu Papier gebracht hat. Die Zeugin weiß jedoch von nichts. Bevor alles zu spät ist, zieht Karin Graeger- Könnig mit einem „rechtlichen Hinweis“ ihren letzten Trumpf: Sie möchte prüfen lassen, ob eine Verurteilung wegen Hausfriedensbruchs nötig wird. Immerhin hätten sich die Angeklagten auf dem Privatgelände der „Munitionsdepot- und Servicegesellschaft“ (MDSG) befunden. Der Chef der MDGS könnte als Zeuge befragt werden.

Aber jetzt reicht es den beiden Anwälten: „Die Staatsanwaltschaft hatte zwei Jahre Zeit zu ermitteln.“ Herausgekommen ist dabei wohl nur wenig. Immerhin gelangten beide Angeklagten auf legale Weise zu den Kriegsschiffen am Kai: Ulf Thämelt mit Hilfe eines Bootes über den Seeweg; Holm Vogel über das Museumsgelände des „Historisch-technischen Informationszentrums“. Beides öffentlich zugängliche Wege. Kein Hausfriedensbruch.

So bleibt der mit einer völlig überzogenen Anklage geschlagenen Staatsanwältin nur übrig, für Vogel und Thämelt den Freispruch zu beantragen. Die Ermittlungsergebnisse seien „zu dürftig“. Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck hat dem nicht viel mehr hinzuzufügen als einige Worte über den politischen Hintergrund dieses dritten und wohl letzten Peenemünde-Verfahrens: „Junge Menschen haben gegen illegale Rüstungsexporte in eines der blutigsten Regime der Welt protestiert.“ Zu guter letzt ergreift Anwalt Volker Ratzmann das Wort. Er vergleicht die Protestaktionen von Peenemünde mit Aktionen gegen DDR-Unrecht. Für „heuchlerisch“ hält er einen Staat, der die einen Widerständler als Helden hofiert, die Protestler vom Timor-Trupp aber als Kriminelle verfolgt. Der Richter entscheidet: Freispruch.