Das Eigene ist das Fremde

■ Schach, Reis, Sirup – ohne den Orient wäre der Okzident arm. Ein neues Buch von Annemarie Schimmel über die ost-westliche Annäherung

Wer Holland sagt, denkt meistens Tulpe. Die ragende Blüte und das protestantische Flachland scheinen Synonyme. Das identitätsbildende Symbolgewächs der Niederlande gelangte um 1600 aus dem osmanischen Reich an die Küste und leitet sich von dem türkischen Wort für den gewickelten Turban ab.

Das Eigene ist das Fremde. Das Beispiel aus Annemarie Schimmels neuem Buch soll zeigen, wie eng europäische und islamische Kultur verwoben sind. Ganz neu sind ihre Erkenntnisse nicht. Doch wo der Okzident wieder zum Kreuzzug gegen den Islam rüstet, schadet es nicht, daran zu erinnern, woher er seine Kultur hat. Europa verdankt seine Kenntnis griechischer Philosophie, Mathematik und Medizin den Übersetzungen der arabischen Aufklärung. Um 1000 war das islamische Toledo ein kultureller Umschlagplatz zwischen Juden, Christen und Muslimen und ein wichtiges Übersetzerzentrum. Von hier fanden Laute und Schachspiel, Reis und Sirup in die europäische Kultur.

Das Buch zeigt die umstrittene Orientalistin von ihrer besseren Seite. Mit enzyklopädischem Wissen belegt sie die Geschichte eines Feindbildes. Seit den Belagerungen Wiens durch das osmanische Reich machten, so Schimmel, die deutschen „Türkenlieder“ aus einem kriegerischen Volk des Islam ein langlebiges Negativsymbol des Islam schlechthin. Zwar zog der Aufklärer Voltaire den toleranteren Konfuzius dem Propheten vor, doch entstand damals die wissenschaftliche Arabistik, und die im 18. Jahrhundert übersetzten Geschichten aus „Tausendundeine Nacht“ prägen bis heute das Massenbewußtsein. Mozarts türkisierende Oper „Die Entführung aus dem Serail“ spiegelte die westliche Projektion des Reichs grenzenloser Sinne ebenso wider wie die Malerei von Delacroix bis Macke.

Liebhaber der bösen Annemarie Schimmel mit Sinn für „die Stellen“ werden in ihrem neuesten Werk nicht fündig. Zwar interpretiert sie auch hier wieder das Fremde fast wie das Eigene: Etwa die „gebotene Unzugänglichkeit der Frauengemächer“ mit den kunstvollen, aber leider trotzdem vergitterten Fenstern islamischer Profanarchitektur. Woher das kommt, ahnt man in ihrem Kapitel über die „einfühlende Kenntnis“ der romantischen Islambegeisterung von Herder und Rückert. Doch dessen Motto „Sprachenbändigung als Weltverständigung“ liefert Schimmel auch eine zeitgemäße Methode für einen friedlichen Dialog der Kulturen.

Als Ablenkung vom Terror kann man Schimmels informativen Versuch, die Schokoladenseiten des Islam – Poesie und Kunst – gegen die oft gräßliche moderne Realität ins Feld zu führen, nicht auslegen. Doch diese rückwärtsgewandte Imagepflege kennzeichnet ihre generelle Haltung. Ironischerweise hält sie genau dies dem Begründer der europäischen Orientalistik (im Gefolge von Napoleons Ägypten-Feldzug), Silvestre de Sacy, vor: Er blende die „Realien der Islamkunde“ aus. Schimmel beschreibt die Arabeske in der islamischen Kunstgeschichte. Der Verweis auf die sich spaltende, unendliche Gabelblattranke, die Alltags- und Kultgegenstände überzieht, soll die innere Vielfalt des Islam hervorkehren. Doch genügt diese indirekte Auseinandersetzung, die oft tödlichen Einengungen von heute zu begreifen?

Schimmels detailwütige Phänomenologie west-östlicher Wahrnehmung wirkt wie ein Filmriß. Schnitt Ende des 19. Jahrhunderts. Kein Wort zu Annäherungsproblemen wie Fundamentalismus oder Menschenrechten. So fehlt ihrer Beschwörung des Verbindenden jeder Wegweiser für einen Dialog am Ende des 20. Jahrhunderts. Es entsteht der fatale Eindruck, man ducke sich besser, bis der unerklärliche fundamentalistische Sturm vorüber ist, um dann auf dem west- östlichen Diwan poetisch da weiterzumachen, wo Goethe und Rückert aufgehört haben.

Daß Schimmel keine Expertin nachkolonialer arabischer Kultur ist, kann man ihr nicht vorwerfen. Doch ihr ausschließlicher Rückgriff auf den historischen Islam verengt Reformperspektiven auf das religiöse Fragen. Manchmal erscheint einem die berückende Empathie der Schimmelschen Islamistik wie das, was sie einmal als Vorrecht der Sufi-Pilger beschrieb: Mit kleinem Besen das Grab des Heiligen reinfegen. Doch wäre nicht auch manche säkulare Wiege islamischer Moderne ebenso zu polieren wie ihr historisches Erbe? Und reicht für den schwierigen interkulturellen Dialog Goethes „prophetische Erfahrung“ des Islam, die Annemarie Schimmel so sehr bewundert? Ingo Arend

Annemarie Schimmel: „West-östliche Annäherungen. Europa in der Begegnung mit der islamischen Welt“. Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 1995, 136 Seiten, 28 Mark