: Kinder als Geiseln allein gelassen
■ Nach dem glimpflichen Ende des Geiseldramas in Köpenick betreibt der Bezirk Ursachenforschung
Die Geiselnahme von drei Kindern in einer Köpenicker Kindertagesstätte ist am Montag abend vom Sondereinsatzkommando der Polizei (SEK) unblutig beendet worden. Wie berichtet, hatte ein bewaffneter Mann die sechsjährigen Jungen mehrere Stunden in einem Zimmer der Einrichtung festgehalten. Der für die Kita zuständige Köpenicker Jugendstadtrat Hans-Joachim Munte (SPD) versuchte gestern zu klären, warum die diensthabenden Erzieherinnen die Jungen mit dem Täter allein gelassen hatten.
Nach fast drei Stunden Geiselnahme hatte das SEK den Täter überwältigt, als dieser mit seiner Schwester telefonierte. Zuvor hatte der Mann eine Geisel mit der handschriftlichen Forderung nach draußen geschickt, er wolle mit seiner Schwester sprechen. Die Kinder wurden nach der Befreiung unverletzt ihren Eltern übergeben. Die Waffe, mit der der Täter die Kinder bedroht hatte, wurde später als Schreckschußpistole identifiziert.
Der aus Köpenick stammende 29jährige arbeits- und wohnungslose Täter wurde dem Haftrichter zum Erlaß eines Haftbefehls vorgeführt. Gegen ihn besteht bereits ein Haftbefehl wegen eines Steuervergehens. Als Motiv für die Geiselnahme vermutet die Polizei nach den bisherigen Ermittlungen persönliche Schwierigkeiten des Täters. Daß er sich die Kindertagesstätte „Schöneweider Spielkiste“ für die Geiselnahme ausgesucht hat, scheint ein Zufall gewesen zu sein.
Jugendstadtrat Munte hatte sich bei der Geiselnahme am Montag nachmittag zusammen mit dem Köpenicker Bezirksbürgermeister Klaus Ulbricht (SPD) vergebens als Austauschgeisel zur Verfügung gestellt. Gestern versuchte Munte die Ereignisse in der Kita während der dramatischen Stunden zu rekonstruieren.
Laut Dienstvorschrift müssen auch während des Spätdienstes mindestens zwei Erzieherinnen anwesend sein. Dies sei Montag nachmittag gegen 16.30 Uhr auch der Fall gewesen, so Munte nach seinem Gespräch mit den Erzieherinnen in der Kita. Eine der Erzieherinnen sei mit 25 Kindern im ersten Stock gewesen, während sich die zweite Kollegin mit sechs Hortkindern im Bastelraum im Erdgeschoß aufhielt. Als dort plötzlich ein Mann auftauchte, habe die Betreuerin zuerst gedacht, es handele sich um einen Vater, der sein Kind abholen wolle.
Der Mann habe die Erzieherin jedoch am Kragen ihres Pullovers gepackt, wild mit seiner Pistole herumgefuchtelt und dabei laut geschrien. Da sich der Täter ausschließlich mit ihr beschäftigte, habe die Erzieherin die sechs Kinder durch Zurufe zum Verlassen des Raumes zu bewegen versucht. Die Kinder hätten sich jedoch nicht gerührt. Dann sei eine Mutter aufgetaucht, um ihren Jungen abzuholen. Die Erzieherin habe ihr zugerufen, die Polizei zu holen. Das habe die Mutter, die sich als erstes ihren Jungen griff, vom Büro der Kita aus auch getan.
Wenige Minuten später sei eine zweite Mutter in den Raum gekommen. Die Erzieherin, die immer noch von dem Täter am Pullover gewürgt wurde, sei mittlerweile in Panik verfallen. Sie habe die Hand der Mutter gepackt und die beiden Frauen seien zusammen mit zwei Kindern aus dem Raum geflohen.
Nach den Aussagen Muntes blieben dabei die drei übrigen Jungen mit dem Täter allein zurück. Die Erzieherin sei auf die Straße gerannt und und habe dort mehrere Männer zu Hilfe gerufen. Die mittlerweile eingetroffenen Polizisten hätten die Erzieherin jedoch nicht wieder in den Raum zu den Kindern gelassen. Die Frau lief daraufhin in den ersten Stock und verließ mit ihrer Kollegin und den anderen 25 Kindern über die Nottreppe das Haus.
Laut Munte war die Erzieherin, die seit zehn Jahren als solche tätig ist, gestern von dem Vorfall noch „sehr betroffen“. Ob sie sich richtig verhalten hat, soll auf einer Sitzung mit Kita-Fachleuten geklärt werden. Grundsätzlich müßten Erzieher bei Gefahr bis zum Ende bei den Kindern bleiben, erklärte gestern auch Jugendstaatssekretär Klaus Löhe (SPD). Er schränkte allerdings ein, daß er die genauen Umstände des Falles nicht kenne. Plutonia Plarre
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