: Die Verantwortung für Srebrenica tragen viele
Auf Druck von seiten der UNO und von den Mitgliedern der Kontaktgruppe waren Teile der bosnischen Führung bereit, die Enklaven im Osten des Landes aufzugeben und einer Teilung Bosniens zuzustimmen. Die Niederländer führten nur das Mandat der UNO aus ■ Von Erich Rathfelder
Kaum jemand, weder die Unterhändler der internationalen Kontaktgruppe noch die UNO, die Kommandeure der Unprofor-Truppen vor Ort und selbst die bosnische Regierung, hatte für möglich gehalten, was am 11. Juli 1995 in Srebrenica geschehen ist: daß die serbischen Truppen nach 1992 noch einmal einen Massenmord an der bosnischen Bevölkerung begehen würden. Der Massenmord im Jahre 1992 schien längst der Vergangenheit anzugehören.
Wie wurde diese Wiederholung aber möglich? Die Mörder sind zwar ausgemacht: General Ratko Mladić befehligte persönlich die Massaker, doch auch die UNO, die Mächte der sogenannten Kontaktgruppe und selbst die bosnische Führung müssen sich unbequemen Fragen stellen. Jetzt, nachdem drei Monate vergangen sind, lichtet sich der Nebel über den Verantwortlichkeiten.
Die Tragödie von Srebrenica bahnte sich schon im Februar dieses Jahres an. Unter dem Einfluß des diplomatischen und militärischen Drucks der internationalen Gemeinschaft waren Teile der bosnischen Führung bereit, über den Austausch der Bevölkerung Srebrenicas und Žepas zu verhandeln. Dafür sollten sie mit bisher unter serbischer Kontrolle stehenden Gebieten nördlich Sarajevos entschädigt werden, deren Übergabe einen sicheren Zugang zur Hauptstadt eröffnet hätte. Ende Januar 1995 hatte Serbenführer Radovan Karadžić diesen Kuhhandel vorgeschlagen.
Daß das Angebot der serbischen Seite nicht unverzüglich von der bosnischen Führung zurückgewiesen wurde, löste schon im Februar Proteste des Srebrenica- Komitees – einer Flüchtlingsvereinigung aus Srebrenica – in Tuzla aus. „Wenn solche Pläne realisiert würden“, so erklärte damals die Vorsitzende des Komitees, Jasna Halilagić, dem Verfasser, „würde die Bevölkerung Tuzlas auf die Barrikaden gehen.“
Doch die Mobilisierung der Bevölkerung fand nicht statt. Das Komitee hatte mächtige Gegner. Sogar einige Befehlshaber der Armee, wie der Oberkommandierende Razim Delić, sahen damals in den Enklaven einen Hemmschuh. Mit den Enklaven waren der Armee die Hände gebunden. Die Drohungen der Serben, sich an den Enklaven zu rächen, behinderten Offensiven der bosnischen Armee in anderen Landesteilen. Und manche Führer der Regierungspartei SDA – unter ihnen Ejub Ganić – liebäugelten schon seit langem damit, eine territoriale Aufteilung Bosnien-Herzegowinas vorzunehmen, die einen kleinen muslimischen Staat ermöglicht. Ein Bevölkerungsaustausch ist in diesem Konzept nicht ausgeschlossen.
Wie weit die Verhandlungen mit Karadžić über einen Austausch der Bevölkerungen in den Enklaven gediehen waren, ist bisher nicht bekannt. Nach dem Fall von Srebrenica halten die Beteiligten dicht. Selbst Ministerpräsident Haris Silajdžić, der diese Position von jeher heftig bekämpft hat – er will das gesamte Bosnien-Herzegowina wiedererstehen lassen – will darüber öffentlich nichts sagen. Tatsache aber ist, daß Silajdžić Anfang September 1995 vor dem Parlament in Sarajevo seinen Rücktritt angeboten hat, als das Präsidium des Parlaments sich weigerte, über die Umstände des Falles von Srebrenica zu diskutieren. Präsident Alija Izetbegović hielt sich bei dieser Diskussion bedeckt.
So wabert die Gerüchteküche: Warum ist der Kommandeur der bosnischen Armee in Srebrenica, Naser Orić, just vier Wochen vor dem Fall Srebrenicas zusammen mit 18 Offizieren vom Oberkommando in Sarajevo zu einem Lehrgang nach Tuzla berufen worden? Warum ist er von dort aus nicht rechtzeitig zurückgekehrt? Nur wegen der Gefahr, daß sein Hubschrauber abgeschossen werden könnte, wie dies mit seinem Stellvertreter geschehen ist? Tatsache bleibt: Die Verteidiger Srebrenicas waren führungslos, als das Massaker begann. Und Naser Orić ist heute ausgeschaltet, aus der Armee entlassen. Hatten sich Teile der bosnischen Führung bis zum Schluß dem internationalen Druck gebeugt, Srebrenica aufzugeben?
Ein Blick auf die Ereignisse in Srebrenica läßt Schlüsse zumindest über den ungeheuren Druck zu, unter dem die bosnische Führung stand. Die UNO-Schutzzone Srebrenica wurde nach monatelanger relativer Ruhe seit Beginn des Monats Februar 1995 erneut von serbischen Truppen angegriffen. Immer wieder kam es zu Beschuß mit Granaten, aber auch Infanterieangriffen. Unter den Augen der UNO wurde der Belagerungsring immer enger gezogen. Die serbischen Terraingewinne wurden schon Ende Februar vom Unprofor-Kommando in Tuzla heruntergespielt. „Unterschiedliche Auffassungen über die Grenzen der Enklave“ seien die Gründe für die serbischen Angriffe, war die damalige Erklärung. Die ursprünglich dort stationierten 800 holländischen Soldaten wurden seitdem trotz dieser Entwicklung allmählich auf 350 Mann reduziert.
Auch die Vorbereitungen zu den serbischen Angriffen im Juli 1995 sind der UNO nicht unbekannt geblieben. Anfang Juni versuchte Silajdžić die Welt zu warnen. Doch seine Hinweise auf einen bevorstehenden Angriff in Srebrenica und der benachbarten Enklave Žepa verhallten ungehört. Am 4. Juli benachrichtigte der Bürgermeister von Srebrenica, Osman Suljić, die UNO von dem bevorstehenden Angriff. Als die serbische Offensive am gleichen Tag begann, waren 4.000 Mann aus Serbien unter dem Befehl des Oberkommandierenden Momsilo Perišić und einige tausend Mann der bosnisch-serbischen Truppen unter dem Oberkommandierenden Ratko Mladić zusammengezogen. Dies wußten auch die Nato und die USA. Schon seit Monaten waren alle Truppenbewegungen in Bosnien durch unbemannte Aufklärungsflugzeuge, die auf der kroatischen Adriainsel Brac stationiert sind, aufgezeichnet. Am 10. Juli gaben die serbischen Kommandeure den Befehl zum Sturm auf die Stadt Srebrenica, am 11. wurde sie eingenommen.
Die in der Enklave noch verbliebenen niederländischen Blauhelme verteidigten die Stadt bekanntermaßen nicht, die Nato blieb bis auf Beobachtungsflüge und einen vereinzelten Angriff am 11. Juli untätig. Seit dem 4. Juli versuchten bosnische Truppen ihre auf UNO-Stützpunkten gelagerten Waffen wieder zurückzuerhalten – die UNO hatte die Schutzzone Srebrenica im April 1993 zur „demilitarisierten Zone“ erklärt und den Verteidigern den größten Teil ihrer Waffen abgenommen. Die UNO-Truppen weigerten sich trotz der serbischen Angriffe, diese Waffen an die Bosnier zurückzugeben. Aus Sarajevo bekamen die Verteidiger von Srebrenica zudem den Rat der bosnischen Regierung, sich dem Schutz der UNO-Truppen zu unterstellen und keineswegs zu versuchen, mit Gewalt in die UNO-Depots einzubrechen.
Was dann geschah, ist jetzt vielfältig dokumentiert: Die niederländischen UNO-Truppen hinderten die serbischen Truppen nicht einmal daran, auf das UNO-Gelände in Potocari vorzudringen und die noch wehrfähigen Männer aus den 25.000 dorthin geflohenen Menschen auszusondern. Hunderte dieser Männer wurden an Ort und Stelle, in unmittelbarer Nähe des UNO-Stützpunktes, ermordet, der Rest in das Stadion der Nachbarstadt Bratunac gebracht.
Wenn es eine Absprache gegeben hat, dann wurde sie nicht eingehalten. Frauen und Kinder wurden in bereitstehende Busse verfrachtet – die UNO-Hilfsorganisation UNHCR hatte nach Recherchen des bosnischen Journalisten Ekrem Avdic Tage vorher 15 Tonnen Treibstoff an die Serben geliefert –, um die Bevölkerung in die bosnisch kontrollierte Zone, nach Tuzla, zu transportieren. Namenslisten dieser Menschen wurden entgegen der Forderung der bosnischen Regierung nicht angefertigt. Die Niederländer sahen sich nicht einmal in der Lage, die Busse zu begleiten.
Im Stadion von Bratunac sind in den folgenden Tagen Hunderte Menschen massakriert worden. Und von den 12.000 bis 15.000, die sich am 11. Juli vom Dorf Buljim zu einem langen Treck durch serbisch besetztes Gebiet aufmachten, um das 80 Kilometer entfernte freie Gebiet Bosniens zu erreichen, sind bis dato nur 5.081 Menschen angekommen. Massengräber entlang des Weges dieses „Todesmarsches der Männer von Srebrenica“ sind durch Luftaufnahmen von US- Aufklärern dokumentiert worden. Von den mehr als 25.000 Frauen und Kindern, die nach dem Fall Srebrenicas nach Tuzla überführt werden sollten, wurden einige hundert junge Frauen und Knaben während des Transportes aus den Bussen geholt. Ihr Schicksal ist nicht bekannt, sie sind verschwunden. Von den 44.230 Menschen, die sich nach Angaben des Vertreters der Gemeinde Srebrenica bei der bosnischen Regierung, Murat Efendić, am 11. Juli 1995 in der Enklave aufgehalten haben, sind bis heute erst rund 33.000 im freien Gebiet Bosniens angekommen. Wer also direkt gemordet hat, ist inzwischen vielfältig belegt.
Auch die Rolle der niederländischen UNO-Truppen in Srebrenica ist inzwischen offengelegt: die Verteidigung der Menschen in Srebrenica war nicht ihre Aufgabe, die UNO-Truppen hatten nach Interpretationen des UNO-Hauptquartiers gar nicht das „Mandat“, die Zivilbevölkerung zu schützen. Nato-Angriffe wurden seit April 1994, seit dem Angriff auf Goražde, lediglich angedroht oder geflogen, um die UNO-Truppen zu schützen, nicht aber die bosnische Zivilbevölkerung – auch in Srebrenica. Der angesichts von Sektgelagen und Verbrüderungsszenen mit den serbischen Eroberern entstandene Eindruck einer ekelhaften Kumpanei seitens der Niederländer kann moralisch nicht entkräftet werden, wohl jedoch mit einem formalen Argument: Sie können sich auf das „Mandat“ der UNO-Truppen zurückziehen.
Die Problematik des Mandats, so wie es von der UNO-Führung vor Ort definiert wurde, ist mit den Ereignissen in Srebrenica offensichtlich geworden. Indem die UNO immer wieder „friedenserzwingende Maßnahmen“ ablehnte, beschränkte sie sich zunehmend auf eine „Zuschauerrolle beim Völkermord“ (Silajdžić). Schon seit Frühjahr 1994 war die bosnische Regierung in Sarajevo von der UNO unter starken Druck gesetzt worden, die damaligen Enklaven Srebrenica und Žepa, Goražde und sogar Bihać aufzugeben oder zumindest zu demilitarisieren. Die UNO-Vertreter schlossen sich Argumenten der serbisch-bosnischen Seite an, nach denen „von den Enklaven eine ständige Gefahr für die serbische Bevölkerung der umliegenden Gebiete“ (so UNO-Sprecher Williams im Mai 1995 in Zagreb) ausgehe. Trotz der ungeheuerlich anmutenden Umkehrung der Tatsachen – schließlich belagerten ja die serbischen Truppen die Enklaven – forderten die Unprofor-Befehlshaber in Bosnien, Michael Rose und Bernard Janvier (Oberbefehlshaber im ehemaligen Jugoslawien), wie auch Yasushi Akashi die bosnische Regierung auf, einer Entwaffnung der Enklaven zuzustimmen. Der Widerspruch zwischen der Strategie der UNO, die Schutzzonen zu „demilitarisieren“, und dem gleichzeitigen Auftrag, die UNO-Schutzzonen zu verteidigen, führte zu skurrilen Szenen. In einem Interview mit dem Verfasser erklärte Akashi am 24. Mai 1995 wörtlich: „Die Frage ist, ob die UNO diese UNO-Schutzzonen wirklich verteidigen könnte... Wir können als UNO nämlich keinen konventionellen Krieg führen.“ Die holländischen Soldaten haben diesen Widerspruch in ihrem Verhalten nur deutlich gemacht.
Der nach Srebrenica zurückgetretene Akashi, so Murat Efendić, der Vertreter Srebrenicas bei der bosnischen Regierung, „war nur ausführendes Organ einer noch höher anzusiedelnden Strategie“. In der Tat erhärten sich Berichte der taz, nach denen Repräsentanten der führenden Mächte der Nato eine politische Lösung in Ostbosnien anstrebten, die auf der Aufteilung Bosnien-Herzegowinas in zwei ethnisch unterschiedliche Teile hinausläuft. Vor seinem Tod am Berg Igman war der damalige US-Repräsentant Robert Frasure die Schlüsselfigur für derartige Verhandlungen. Danach sollte West- und Zentralbosnien der Föderation von Kroaten und Muslimen zufallen, Ostbosnien einschließlich des serbisch besetzten Teils von Sarajevo jedoch den Serben. Eine solche Lösung soll auch für Rußland akzeptabel sein.
Sicher ist also, daß es sowohl in der UNO wie auch in den Nato- Staaten und selbst in der unter Druck gesetzten bosnischen Führung Fürsprecher für den Austausch der Bevölkerung der ostbosnischen Enklaven gegeben hat. Daß die USA sogar noch nach der Londoner Konferenz der Nato im Juli – auf der die Verteidigung der letzten Enklave Goražde beschlossen wurde – in ihrem neuen Friedensplan Goražde aufgeben wollten, fügt sich in das Bild der zumindest nach außen hin widersprüchlichen Politik der westlichen Führungsmacht. Seit Anfang August – nach der Auswertung der Tragödie von Srebrenica und Žepa – hat sich eine eindeutigere Strategie durchgesetzt: Richard Holbrooke betonte kürzlich ganz im Sinne von Haris Silajdžić, Ziel der Friedensverhandlungen in Dayton sei die Wiederherstellung des Staates Bosnien-Herzegowina. Es wäre für die Überlebenden von Srebrenica wenigstens eine Genugtuung, wenn dies ernst gemeint sein sollte.
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