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Eher wie Tütensuppe

Hier filmt der Überlebende: Larry Clarks „Kids“ ab heute in den Kinos  ■ Von Mariam Niroumand

Der Stern, in den siebziger Jahren neben Pardon durchaus noch gut für den politisierten Sexskandal, hat den deutschen Start von Larry Clarks Film „Kids“ mit einem Aufmacher über Teenagersex eröffnet. Unter dem Titel „Dieses echt geile Gefühl“ zeigen Fotos von einem gewissen Bob Carlos Clarke(!) einige mindestens Neunzehnjährige auf Sperrmüllsofas und dezent vermülltem Tanzbodenparkett liegend; man sieht Nylonstrümpfe mit quadratischem Schrittverstärker, weiße Schlüpfer, gestärkte Hemden, Schmuddelkinder in Satin. Fotografiert mit kurz aufgeschwungener Lichtquelle, mit Balken über den Augen der uns Zugewandten, wirkt das Ganze wie alles Mögliche – beispielsweise Tatortfotografie, oder eine derangierte Konfirmationsparty – jedenfalls ganz sicher nichts besonders Erfreuliches oder gar Geiles. Mühsam soll hier ein Aufregungsmoment hervorgekitzelt werden, von dem fraglich ist, ob der Film selbst es wird halten können. In Deutschland werden sich, so behaupte ich mal, keine fünf Schreiber finden, die irgendwie der Auffassung sind, die Kinder täten etwas, für das man ihre Augen mit Balken verdecken müßte. Auch der Stern-Text arbeitet eher mit einem onkelhaften Günter-Amendt-Verständnis; hauptsächlich ist von Angstlust die Rede: „Alles in Bewegung, nichts gesichert, jeder Blick zurück ein Blick ins Land der Hosenscheißer, jeder Schritt nach vorn ein Schritt in unbekanntes Terrain. Und im Kopf tanzen Hypothalamus und Hypophyse mit den Hormonen Ringelreihen.“

Es geht einfach nicht. Wer nicht mehr sechzehn ist, soll schweigen. Soll meinetwegen Jugendkultur auf Allrightness prüfen, aber nicht den Bauchredner spielen, nicht „von innen“ zu sprechen vorgeben. Oder? Ist das so wie: Wer nicht schwarz ist, soll keine schwarzen Gesten benutzen? Wer keine Frau ist, darf keinen Roman mit weiblicher Ich-Erzählerin schreiben?

Larry Clark, 1943 in Tulsa/Oklahoma geboren, beanspruchte schon in seinen drei Fotobüchern, allesamt geradezu antisoziologisch, einen Insiderstatus.

Warhol war es „zu real“

„Tulsa“ (1971) war eine Sammlung narrativ gehaltener Fotos einiger Freunde, die in beposterten Jugendzimmern Heroin spritzten, an Handfeuerwaffen leckten und kapitale Erektionen ins Spiel brachten. Warhol soll es „zu real“ gefunden haben. In Wahrheit hat Clark, auch in den späteren „Teenage Lust“ (1983) oder „Die perfekte Kindheit“ (1993) durchaus – neben neu arrangiertem gefundenem Material – Begegnungen inszeniert, wie beispielsweise die zwischen einem blonden Jungen und einer schwarzlockigen Prostituierten, die ihm seinen ersten Blow- Job gibt. Oder die zwischen dem „Bruder“, der seine gefesselte nackte „Schwester“ mit der Waffe bedroht, was von ihr ganz offensichtlich nicht unbedingt als unangenehm empfunden wird. Ein Hauch von Genet liegt, nicht unblöd, über Clarks Sexualisierung des (Beschaffungs-)Verbrechens.

Clark macht nur einen ganz kleinen Mythos aus der Tatsache, daß seine Scene-Credibility sich dem eigenen Leben als Amphetamin-Fixer in den fünfziger Jahren verdankt. Sein Speed kam aus dem Nasenspray „Velo“, damals für 79 Cents rezeptfrei zu erwerben, um dann destilliert und im Kreise einiger Freunde unter höchster Diskretion in den Arm geschossen zu werden: „Wir waren die Pioniere der Drogenkultur“, sagt er heute mit einer gewissen Melancholie. Wahrscheinlich waren ihm seine Beatnik-Zeitgenossen zu bohemistisch, um diesen Titel zu verdienen; Clarks Geschmack wie auch seine Protagonisten sind definitiv middle class.

Als er fünfzehn war, machte er für seine Mutter, die ein kleines Fotogeschäft betrieb, den „Caller“: Nachdem sie sich beim lokalen Geistlichen erkundigt hatten, wer in der letzten Zeit ein Kind zur Welt gebracht hatte, gingen sie hin, um Babyfotos anzupreisen. Vater soll sich, angesichts des nicht üblen Erfolges dieser Strategie, in eine Kammer des Hauses zurückgezogen und von dort nur noch ab und an mit düsteren Bemerkungen interveniert haben. Nach einer eigenen, durch viele Kliniken und einige Besserungsanstalten führenden Drogenkarriere ist Clark inzwischen clean und Familienvater, mit Wohnsitz nahe dem New Yorker Washington Square, von dem denn auch die meisten seiner Protagonisten stammen. Sein offenbares „Just-say-yes“-Verhältnis zum Heroin aber und sein in allen Interviews zu den Teenangels in seinen Fotobänden geäußertes „Das-bin- ich“ lassen ein erstes Motiv für „Kids“ ahnen: den Wunsch, die eigene „perfekte Kindheit“ als hippieske Utopie in einem ewigen Film-Rave zu perpetuieren.

Aber „Kids“ ist anders. Ein Rave ist da zwar durchaus, 24 Stunden Love Parade von Upper nach Lower Manhattan, aber ohne Love, und die vertikale Pfeilrichtung nach unten ist signifikant. Es ist ein Sommer, als sollte es der letzte sein. Noch bevor man irgend etwas sieht, hört man zum laufenden Vorspann fettig schmatzende Kußgeräusche. Man wird solchermaßen darauf hingewiesen, daß die Aktion nicht für die Kamera stattfindet: Kids are doin' it for themselves.

Was man dann so zu sehen bekommt, hat mich bei den ersten Vorführungen in Cannes zunächst ziemlich begeistert: alles wirkt unlackiert, ohne Überbau, irgendwie roh statt weichgekocht, keine erhebenden Kameraschwenks, die den stattgehabten Sex irgendwie ins Ideelle zerren wollen. Auf einem Bett inmitten unsymbolisch aufgereihter Stofftiere hocken zwei Teenager, die eher nach Clerasil als nach Models aussehen, beluuutschen sich und treten dann in ziemlich nüchterne Verhandlungen: Du weißt, was ich will, oder? Ja, du willst mich ficken. Und? Es geht nicht. Ich will nicht schwanger werden. Aber du wirst es mögen, das weiß ich.

Sie willigt ein, sie bringen es mehr oder weniger unbeobachtet hinter sich, danach springt Telly (Leo Fitzpatrick, Laiendarsteller aus Clarks Nachbarschaft) die Treppe hinunter, spuckt noch einmal auf den Eßtisch ihrer Eltern und verschwindet aus ihrer Tür und wahrscheinlich aus ihrem Leben. Sein Freund Casper (Justin Pierce) hat draußen gewartet und darf an der Pussy-Hand riechen. Telly ist Jäger und Sammler von Jungfrauen, sie sind sauber, „du bist ein Leben lang der erste für sie“, und du kannst dir nichts von ihnen holen. Auch eine Art von Safe sex.

Das Drehbuch stammt von dem damals neunzehnjährigen Harmony Korine, auch so ein Skateboarder vom Washington Square, und man glaubt zu hören, wie Clark ihn gebeten hat: sag es, sag alles, auch das Schlimme, auch das Dolle. „Deine Mutter hat klasse Titten“, befindet Casper, als sie kurz bei Telly zu Hause vorbeigehen, wo die einzige Erwachsene des Films gerade ein Baby stillt. Anschließend steckt er sich einen in Himbeersirup getauchten Tampon in den Mund und luuutscht es.

Laß es rollen: die Kamera folgt den beiden auf ihrem Weg durch die Stadt wie Flipper, der kluge Delphin, früher Bud und Sandy folgte, fröhlich nickend, Jump-cuts und Reißschwenks inklusive. Im Central Park wird schwingend Skateboard gefahren, ein unpassendes Gesicht zu Brei gehauen (war schwul), Pot gekauft. Die Jungs reden über Sex, die Mädchen reden über Sex (schmeckt Sperma eher wie Tütensuppe oder eher wie Halbfettjoghurt?), und es klingt durchaus so abgewichst, wie es klingen soll.

Dann kommt ein nicht unelegant gemachtes Genrestück: Ständiger Schnittwechsel zwischen dem Zug des Raubtiers und dem des Opfers. Während Telly weiter Richtung Lower Manhattan zieht, hat Jennie (Chloe Sevigny, eine nach Jean Seberg aussehende Downtown-Szenegröße) auf dem Gesundheitsamt ihr Testergebnis bekommen. Von einem Mal Tellys Jungfrau sein hat sie Aids. Um ihn – zu warnen? zur Rede zu stellen? zu verführen? – zieht sie wie ein Racheengel hinter ihm her. Der Countdown läuft. Schon hat Telly die Beute für den Abend ins Auge gefaßt, die süße Darcy.

Wunschmaschinen im Manhattan-Groove

Nun gibt es die Vermutung, beispielsweise von Diedrich Diederichsen in Texte zur Kunst, daß Larry Clark von etwas getrieben ist wie der Suche nach einem Moment verwirklichter Hippie-Utopie. Wunschmaschinen auf Skateboards im Manhattan-Groove. Alles ist noch möglich. Wenn davon in „Kids“ noch irgend etwas übriggeblieben ist, dann vielleicht ein einziger Augenblick, nachts, in einem Schwimmbad. Das Wasser glitzert, die Hitze gibt ein bißchen Ruhe, Telly und Darcy knutschen, der Rest weiß nicht so genau, was miteinander anfangen, und verlegt sich deshalb auf eine Kombination aus freundlichem Zotenreißen und Wasserspritzen. Dies ist der einzige Moment, wo zwischen den Protagonisten etwas wie Sympathie aufblitzt. Warum in aller Welt sollte man deren sonstige Abwesenheit mit „endlich-geht-es-mal- nur-um-Sex“ begrüßen? Komme mir niemand mit: Weil es so war! Wir hätten nichts anderes gewollt!

Es soll hier nicht verraten werden, wie der Countdown zwischen Todes- und Racheengel endet. Jedenfalls ist eins der letzten Bilder ein Travelling shot über einen Berg schlafender junger Partykörper. Der Morgen danach. Oder ein Friedhofsidyll? Ein Aids-Massengrab? Gefallenes Sündenbabel, Sodom und Gomorrha? Au revoir, les enfants! Ohne weiteres kann man diesen Moment als die Stunde des Überlebenden Larry Clark lesen, der einen letzten Blick über die Todgeweihten kreisen läßt. Wie schrieb Canetti: Der Überlebende beim Gang über den Friedhof fühlt, „daß er hier allein spazierengeht. Zu seinen Füßen liegen viele Unbekannte, alle dicht beisammen. Ihre Zahl ist unbestimmt, doch groß, und es werden ihrer immer mehr. Sie können nicht voneinander fort, sie bleiben wie auf einem Haufen. Er allein kommt und geht, wie es ihm beliebt. Er allein unter den Liegenden steht aufrecht.“

„Kids“, Regie: Larry Clark. Mit: Leo Fitzpatrick, Justin Pierce, Chloe Savigny u.a. USA: 1995

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