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Mit dem Rollenbuch aufs Altenteil

Sie heißen „Rheumas Töchter“ oder „Spätzünder“, sie werden zu einem Festival in London eingeladen, sie machen keine Kunst, aber wichtige Kulturarbeit vor Ort – die Ensembles des SeniorInnen-„Theaters der Erfahrungen“  ■ Von Margot Weber

Engel haben knallbunte Haare aus Synthetik, tragen weiße Gewänder mit Goldrand – und sind irgendwie kompliziert. Wer neu zu ihnen stößt, hat's schwer. Und so büxt die Nummer 5 immer wieder aus und schwebt auf die Erde zurück, unbeirrbar glaubend, sie würde dort dringend gebraucht. Bei diesen heimlichen Ausflügen trifft sie auf eine bunte Mischung unterschiedlichster Gestalten: auf sich emanzipierende Männer und Versicherungsschwindler, auf einsame alte Frauen und auf Rockerbräute.

„Von allen guten Geistern verlassen“ nennen die sieben Frauen und zwei Männer von der Thatergruppe „Graue Zellen“ ihre musikalische Revue über die Basisarbeit eines aufmüpfigen himmlischen Wesens. Seit mehr als zehn Jahren touren sie mit ihren Kabarettprogrammen durch die Lande. Das einzige, was die „Grauen Zellen“ von anderen Laientheatergruppen unterscheidet, ist das Alter der SpielerInnen: Die jüngste ist etwas über 50 Jahre alt, Herbert, der älteste, ist 82.

Zwar sind die „Grauen Zellen“ eine selbständig arbeitende Crew, gleichzeitig aber auch Bestandteil des Schöneberger „Theaters der Erfahrungen“: 36 Seniorinnen und Senioren aus ganz Berlin haben sich in den vergangenen 15 Jahren zu fünf Ensembles zusammengefunden – und sich so assoziationsreiche Namen gegeben wie „Ostschwung“, „Küchenschaben“, „Spätzünder“ oder „Rheumas Töchter“. Gewinne erwirtschaften müssen sie nicht: Das „Theater der Erfahrungen“ ist ein vom Senat gefördertes Projekt.

Ob die SeniorInnen nun perfektes Schauspiel abliefern, ist ihnen nicht so wichtig. Den Text behalten, die Rolle beherrschen, das steht erst an zweiter Stellen. Denn die alten Menschen verstehen ihr Spiel eher als Selbsterfahrungsprozeß: Sie wollen sich und ihrer Umwelt zeigen, was noch an Kreativität und Spiellust in ihnen steckt. Was sie machen, ist Volkstheater der schlichteren Art: Sie spielen kleine Geschichten aus dem Alltag, spielen Szenen, die sie oft selbst erlebt haben. Das ist zugleich der größte Vorteil der Truppe: „Unser Pfund, mit dem wir wuchern, ist unsere Authentizität“, sagt Sylvia Wingens, die für das Theater die Öffentlichkeitsarbeit macht. „Wir entwickeln und schreiben jedes unserer Stücke selbst – und von der Idee bis zur Inszenierung, vom Bühnenbild bis zu den Kostümen hat jeder Mitspracherecht.“

Die 32jährige ist eine von drei festangestellten Mitarbeiterinnen, die die vielen Auftritte der einzelnen Gruppen koordinieren – allein in diesem Monat sind es 21. Denn ohne exakte Planung geht es nicht: Das SeniorInnentheater hat nämlich keine eigene Bühne, sondern spielt in Kirchengemeinden, Volkshochschulen oder Diakoniestationen – auf Einladung und ohne Honorar, nur gegen eine Erstattung der Kosten für die Anreise mit dem theatereigenen Kleinbus und den Aufbau der Dekoration.

Erst vor wenigen Tagen waren die LaienspielerInnen zu einem internationalen Altentheater-Festival nach London eingeladen, Anfang November spielten drei Gruppen während der Neustädter Seniorentage in einem Dresdener Kulturzentrum. Wird das nicht manchem zuviel? „Nein“, sagt Sylvia Wingens. „Im Gegenteil: Wir bekommen fast regelmäßig nach jeder Aufführung Anfragen, ob wir nicht noch weitere Spieler und Spielerinnen brauchen können.“ Deshalb hat das Theater bereits Workshops eingerichtet, in denen neue Mitglieder langsam angelernt werden.

Ende November steht bereits das nächste große Projekt ins Haus: die „Schule des Lebens“, im Untertitel „Geschichte(n) auf der Bühne“ genannt. Vom 27. November bis zum 1. Dezember zeigt das „Theater der Erfahrungen“ jeden Vormittag um 11 Uhr in der Schwartzschen Villa in Steglitz eine Vorstellung aus dem Repertoire. „Wir laden Lehrer und Schüler ein, sich mit unseren Stücken und Themen auseinanderzusetzen“, erzählt Sylvia Wingens. Zur Vor- und Nachbereitung kommt das Theater auch in die Schule, und im Anschluß an die Vorstellungen sollen die Schüler mit den SpielerInnen diskutieren.

„Rheumas Töchter“ etwa spielen derzeit ihr Stück „1949 – Szenen aus einem Berliner Tanzcafé“: Acht Berlinerinnen erinnern sich an die Zeit zwischen Zusammenbruch, Blockade und Neuanfang. Zufällig treffen die Frauen aufeinander, zufällig begegnen sich acht unterschiedliche Schicksale, acht unterschiedliche Lebensläufe.

Eingeflossen in das Stück sind auch hier zahllose Erinnerungen der Schauspielerinnen: Die Frauen blicken zurück auf ihre Träume und Ängste, ihre Wünsche und Hoffnungen in der Nachkriegszeit. Innerhalb des Repertoires hat sich dieses Stück zum Renner entwickelt: Vorgestern fand bereits die hundertste Vorstellung statt – „keines unserer Stücke haben wir so oft spielen müssen“, sagt Sylvia Wingens.

Informationen zur „Schule des Lebens“: „Theater der Erfahrungen“ c/o Nachbarschaftsheim Schöneberg, Cranachstraße 52, Telefon 8554206 oder 8554378

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