Genese eines Spießers

■ Wenn Hamburger Zeitgeist-Journalisten Romane schreiben: Der Held in Christian Krachts Debüt „Faserland“ hält Gegenkulturen für dreckig – lustig, oder?

Ein traumatisches Erlebnis ist dem Ich-Erzähler aus seinen Jugendtagen auf Sylt erinnerlich: Er konnte sich immer ein „Grünofant“ leisten, während sein Freund nur durch eine milde Gabe auch zum Genuß des besonderen Eises gelangte. Leuten aus gutem Haus, zeigt diese Anekdote, werden Klassenunterschiede von frühester Jugend an bewußt gemacht. Doch der Knirps spürt immerhin noch eine Art Schmach für das reiche Elternhaus, sie wird ihm im Lauf der Jahre gänzlich abhanden kommen.

Als Twen suhlt sich der ichbezogene Held in Faserland, dem Debüt-Roman des Hamburger Journalisten Christian Kracht, schamlos in seinen Statussymbolen. Die Insigien der Schickeria, das Triumph-Cabriolet und vor allem die Barbour-Jacke, werden in der fetischisierenden Leier von Markennamen zum zentralen Haltepunkt der schweifenden Gedanken. Doch anders als Brett Easten Ellis' ebenfalls markennamenversessener American Psycho verdeckt dieser Held unter der Öberfläche keine Abgründe, in denen Ratten, Blut und Sperma hausen.

Lieber vertreibt er sich im „barbourgrünen“ Hamburg die Zeit auf einer Party. Die erste Ecstasy-Pille trübt allerdings die Milchglasscheibe, die ihn von seinem Umfeld trennt, noch weiter ein. Überstürzt und angewidert vom Gruppensex der Freunde, bricht er nach Frankfurt auf, „wo die Mädchen lässig sind“, um einen Freund zu suchen. Mit Freunden, das werden wir sehen, hat er so seine besondere Umgehensweise.

Vorher aber bereitet es dem Salem-Schüler noch Spaß, einen SPD-Betriebsratsvorsitzenden zu provozieren, indem er in einer Wartehalle so viele Lufthansa-Joghurts wie irgend möglich in die Barbour-Jacke stopft. Lustig, nicht? Das wird dann als Akt der Rebellion stilisiert gegen eine immerfort als „faschistisch-sozialdemokratisch“ oder „faschistisch“ mit anderem Appendix bezeichnete Umwelt. Faschismus ist eben alles, was die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit behindert, und seien es noch die banalsten Wünsche. Gewerkschaftler, Sextouristen, Rentner, Werbe-Ärsche und Volxküchen-Autonome – sie alle wirft unser Held in den gleichen Joghurt-Becher.

In Frankfurt kommt es zu zahlreichen Wiederholungsschleifen von Kotzen und Rauchen, er trifft den Freund – und klaut ihm die Designer-Jacke. Dann geht es weiter, quer durchs deutsche Faserland, einmal, so will es die schlichte Dramaturgie der Prosa, von Nord nach Süd. Im Zug unterhält sich unser Held mit Mathias Horx; und dem Kolumnisten Uwe Kopf wird als Insideranspielung auf die Szene der Zeitgeistblätter – Kracht arbeitet bei Tempo – ein kurzer Auftritt gegönnt.

Je weiter unser Held nach Süden vordringt, desto mehr kommt sein Gesicht unverstellt zum Vorschein. Erst in Heidelberg wird schemenhaft deutlich, wonach er sucht, nach was er trachtet – nach Sauberkeit und Sicherheit und eben nicht nach Exzessen und Schrillheiten, wie er selbst zunächst annimmt. Mit seinem musealen Charakter erinnert ihn Heidelberg an die glorreiche Zeit der Großbürger.

Der Twen reist weiter, gibt sich etwas frauenfeindlich bei einem Rave in München, „wo die Mädchen vom Fön so ein inneres Leuchten haben“, etwas schwulenfeindlich bei einer Geburtstagsparty am Bodensee. Dem befreundeten Gastgeber, der suizidgefährdet unter seinen Gästen steht, klaut er noch den Porsche und landet schließlich in Zürich, das ihm besonders hutzelig, sauber und lebenswert erscheint.

Hier wird die Wahrnehmung endgültig zynisch und verblendet, weil der Held in unmittelbarer Nähe des „Platzspitz“ flaniert. Doch der Züricher Fixerstrich, der jedem Ankommenden den Atem stocken läßt, interessiert ihn schlichtweg nicht. Ihn zieht es statt dessen zum Grab von Thomas Mann, das unweit von Zürich liegt. Unser Held, der Gegenkulturen als dreckig und Diskussionen als Hippiekram abgetan hat, ist angekommen: Der Twen von heute und von Welt, suggeriert Faserland, sucht seine geistige Heimat in der Literatur und Haltung der Großväter. Letztlich kartographiert diese Pennälerprosa mit einer Lesezeit von drei Stunden – man ahnte es längst – nur die Bewußtwerdung eines Spießers.

Volker Marquardt

Christian Kracht: Faserland; Kiepenheuer/Witsch, Köln 1995, 166. S., 29,80 Mark