: Eine erstaunliche Straße
■ Unter unendlich vielen Lebensmöglichkeiten wirkt hier nur das Normale crazy: ein alltäglicher Heimweg über die Lange Reihe Von Dirk Knipphals
Dies ist die Geschichte eines Heimwegs. Eines ganz alltäglichen frühabendlichen Wegs von der Arbeit nach Hause durch eine allerdings nicht ganz alltägliche Straße, durch die Lange Reihe in Hamburg-St. Georg. Seit der Schreiber am 15. Juli 1995 ans Ende der Straße gezogen war, seit knapp vier Monaten jetzt also schon, beginnt sein Heimweg im eigentlichen Sinne (bis dahin ist es nur ein Entfernen von der Arbeit) mit einem Schritt aus der S-Bahn. Als einzelner unter Tausenden findet er sich dann im Hauptbahnhof wieder. Und dann geht es vorbei an dem, was wohlmeinende Vorortbewohner Problemgruppen nennen: an Drogendealern, Prostituierten, Homosexuellen und Stadtstreichern; und weiter geht es durch einen Stadtteil, den der typische Eppendorfer, die Durchschnitts-Eimsbüttlerin sich längst als Elendsviertel vorstellen. Ganz knapp vor New York. Aber der Schreiber legt Wert auf die Feststellung: Er geht den Heimweg immer wieder gerne. Es läßt sich nämlich sehr gut leben in der Langen Reihe, dieser erstaunlichen Straße.
Natürlich stimmen die Klischees. „Haschisch“, raunen, flüstern, zischeln geduckte Gestalten am Bahnhofsvorplatz, betont unbeteiligt wirkend, als sprächen sie mit sich selbst. Eine Ecke weiter, kurz bevor die Lange Reihe beginnt, in der (vom aus Hauptbahnhof gesehen) rechten Telefonzelle rauchen Jugendliche Heroin vom Blech. 15jährige Mädchen sind darunter, die dem Schreiber durch die Scheibe die Zunge rausstrecken. Das ist das erste Klischee über St. Georg, und es stimmt, den Drogen kann man hier nicht entgehen.
Aber es gibt so viel mehr als dies in dieser Straße. Um den Stadtteil auf die Drogen und das Elend zu reduzieren, muß man schon ganz schön weggucken können. Zum Beispiel gibt es ein zweites Klischee, das hat sogar einen Namen: Peggy Parnass. Auch ihm kann man nicht entgehen. Den Schreiber ereilte es ein Stückchen von der Telefonzelle entfernt in einem Zeitungsgeschäft. Seitdem er den Film Smoke gesehen hatte, muß er dieses Geschäft immer wieder mit Harvey Keitels Tabakladen in Brooklyn vergleichen. Auch hier treffen sich Menschen aller Sorten, Nationalitäten, Nüchternheitszustände und Berufe. Und eines Tages traf der Schreiber eben auf Peggy Parnass. Die streckte ihm, obwohl er sofort extra so getan hatte, als würde er sie nicht kennen, die Einkaufstasche hin: „Kannst Du mal aufhalten“, kramte umständlich diversestes hinein, trötete dann noch in die Runde, ob jemand die Anzeigen vom Abendblatt brauche, und war sichtlich beleidigt, als alle Anwesenden ihren Elan deplaziert fanden.
So ist sie, die Alternativdiva: mit Leidenschaft Kontakt suchend. Und es gibt noch so viel mehr in der Langen Reihe. Die Künstler-Pension Sarah Petersen zum Beispiel. Dort betreibt eine schräge Wirtin mit kunterbunten Nachmittagskonzerten praktischen Denkmalschutz. Oder es gibt einen Buchladen, der gerade mit dem Plakat wirbt: 100 Gramm Schweinefilet 77 Pfennig. Quer darüber steht: ausverkauft. Und darunter liegen im Schaufenster die neuesten Standardwerke der avancierten ästhetischen Debatte.
Oder es gibt – 30 Meter rechts von der Schule – eine Kindertagesstätte, in der eine wortwörtlich bunt zusammengewürfelte Kinderschar aufs fröhlichste zusammen ihre Erzieher nervt. Wenn der zweijährige Schwarze Kalle (tatsächlich heißt er Caleb) den sehr bleichen siebenmonatigen Sohn des Schreibers mit „Donny, Donny“ (er heißt Johnny) begrüßt, dann erklärt das jedesmal die Problematisierung der Integration für Hohn. Wie man sowieso in der Langen Reihe allerlei Kulturen begegnen kann und immer wieder feststellen muß: Die deutsche ist darunter eher mal die langweiligste.
Wieder ein Stück weiter ist Gay-County. St. Gayorg, wie manche zu sagen pflegen. Hier kann sich der Schreiber besondere Dezentrierungsgefühle abholen: Wenn hier jemand diskriminiert wird, dann sind es die Heterosexuellen. Was ja auch voll in Ordnung ist: Turtelnden Menschen schaut man doch immer wieder gerne zu.
Ach ja, fast hätte der Schreiber etwas vergessen: die Schauspieler. Oft begegnet er auf seinem Weg aufgeregten, gestikulierenden, vor sich hin memorierenden Menschen. Das sind die Ensemblemitglieder vom Schauspielhaus oder dem Thalia Theater. Und was nun besonders interessant ist: Hier fallen sie gar nicht auf. Exaltiert ist hier nämlich auf seine Art sowieso jeder zweite.
An einer bemalten Wand entlang führen die letzten Schritte des Heimwegs. Dann ist die Lange Reihe zu Ende. Und der Schreiber ist zu Hause. Morgen früh wird er den gleichen Weg in die andere Richtung gehen, bis zur Krippe einen Kinderwagen schiebend. Und während er die Haustür aufschließt, muß er folgendes denken: Normalerweise wäre ihm sein Leben mit Beruf, Frau, Kind und Altbauwohnung längst spießig vorgekommen. Wenn es nicht dieser Beruf, diese Frau, dieses Kind und diese Wohnung in dieser Straße wäre. Denn inmitten der unendlich vielen Lebensmöglichkeiten, die sich in der Lange Reihe treffen, wirkt selbst das Normalwerden irgendwie crazy. Der Schreiber wird hier eine Weile wohnen bleiben.
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