Fliehen, um bleiben zu können

■ F.C. Delius stellt am Montag seine neueste Erzählung vor

Friedrich Christian Delius hat oft zeitgeschichtliche Ereignisse zum Anlaß genommen, sich in die Gemütswelten Betroffener einzufühlen. So etwa in Mogadischu Fensterplatz, dem Mittelstück der Bücher-Trilogie, mit der er in den 80ern auf den Deutschen Herbst 1977 zurückblickte. In seinem neuesten Buch Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus nimmt der Autor die Fluchtfixierungen eines real Existierenden (Klaus Müller, der tatsächlich 1988 von Hiddensee aus mit einer Jolle nach Dänemark segelte) zum Objekt der Einfühlung. Am kommenden Montag wird Delius daraus im Rahmen der Literatour Nord in der Heinrich-Heine-Buchhandlung lesen.

Paul Gompitz (so der Name in der Erzählung), belesener Kellner aus Rostock, kann den Traum vom revolutionsscheuen Bildungsphilister im Überwachungs- und Abschottungsstaat DDR nicht leben. Er will nach Syrakus: „das Land der Griechen mit der Seele suchen“, wie es in Reisebüchern zur Zeit des sächsischen Gelehrten Johann Gottfried Seume stand, dessen Bildungsroute Gompitz seit Jugendzeiten im Kopf hat.

Akribisch beschreibt Delius die siebenjährigen Vorbereitungen seines Antihelden, die für die Überführung von West-Trinkgeld und die Tarnung der Fluchtjolle draufgehen. Gompitz „entsegelt“ einem Staat, den er verurteilt, dessen Landschaft er aber liebt: „Ohne die mecklenburgischen Nester kann er nicht leben. Aber einmal muß er es schaffen, sich an irgend etwas festhalten und hochziehen, was hinter der Grenze liegt.“ In Triest angekommen, schreibt Paul Gompitz seiner Frau Helga nach Rostock: „Mein Liebes, wenn meine Reise nach Italien auch weiterhin so schön wird wie der Besuch in dieser Stadt, dann hat sich der Aufwand gelohnt und ich komme als glücklicher, ausgeglichener Mensch zu Dir zurück.“ Doch im sizilianischen Syrakus merkt er: Er wollte das Land verlassen, um bleiben zu können. Nun ist allerdings die Rückkehr in Frage gestellt.

Delius hat ein leicht lesbares Buch mit Gespür fürs authentische Leben in der DDR vor der Wende geschrieben, das an keiner Stelle in nostalgische Verklärung der DDR abgleitet. Allerdings wirkt die dezente Sympathie, die der Autor seinem sächselnden Helden entgegenbringt, auf zu ungebrochene Weise selbstbescheiden und darum in kurzen Augenblicken verdächtig. Symbolisiert der bildungshungrige DDR-Philister den konservativen Alt-68er, der die Heimatliebe für sich entdeckt hat: die Liebe zu Mecklenburg und zur abendländischen Kultur?

Karl May und Immanuel Kant beispielsweise wollten nicht reisen, Paul Gompitz konnte nicht. Achten wir auf den feinen Unterschied: Der Reiseführer genügt nur dem, der reisen darf. Stefan Pröhl

Heinrich-Heine-Buchhandlung, Schlüterstraße, 13. 11., 19.30 Uhr