■ Straßmanns kleine Warenkunde: Der Henkelzipfel
Ein exquisiter Zeitvertreib ist die Jagd auf Höhere Töchter. Höhere Töchter sind ja selten geworden. Einzelexemplare treten beim Aachener Reitturnier auf. Vor drei Jahren wurde eine Höhere Tochter bei einer Tombola zugunsten der Welthungerhilfe gesehen. Man kann sein Glück aber auch bei Café Knigge in der Sögestraße versuchen.
Das Bremer Traditionscafé besteht seit 1889, „bald in der vierten Generation“. Es scheint besonders der seltene Baumkuchen zu sein, der Höhere Töchter anlockt. Man erkennt Höhere Töchter an den langen, wenn auch kräftigen Beinen, am langen, oft in aufwendigen Zöpfen kultivierten Haar sowie daran, daß sie sich nicht in aller Öffentlichkeit Pickel ausdrücken.
Heute sind bei Knigge offenbar keine Höheren Töchter anwesend. Hier sitzt eine mit kurzen Beinen. Dort eine mit Naturkrause. Und drüben, am Fenster, drückt sich eine in aller Öffentlickeit Pickel aus. Wat ein Pech!
Ein paar Höhere Mütter sind da, schau schau! Sie erkennt man an den wagenradgroßen, mit mehreren Farben verzierten Brillengestellen. Sie trinken Tee. Der Tee kommt bei Knigge im Silberkännchen und ist heiß. Die Hitze im Tee verhält sich gemäß den Gesetzen der Wärmelehre unordentlich. Im Idealfall würden die Höheren Mütter den frischen Tee in einem Zug runterkippen. Dann würde sich die Hitze auf der Zunge, in der Gurgel und im Magen verbreiten. In der Praxis aber wandert die Hitze ins Kännchen, dann in den Henkel und schließlich in die Finger der Höheren Mütter. Sie schreien laut auf, stoßen das Teekännchen um, ziehen sich Verbrennungen am ganzen Körper zu, kommen ins Krankenhaus, verlassen es entstellt, verklagen Knigge – und die vierte Generation schlägt das aus Millionenschulden bestehende Erbe aus.
Angesichts dieser Gefahren offeriert man bei Café Knigge zum Tee den Henkelzipfel. Fleißige Lehrlingshände stellen ihn aus runden Papierdeckchen her, von denen sie ein Stück abschneiden und zu einer Nase falten. Ein Tropfen Uhu – fertig ist der Henkelzipfel. Er wird über den Teekannenhenkel gezogen und stoppt die unordentliche Ausbreitung der Teehitze zuverlässig.
Höhere Mütter betrachten beim Verlassen von Café Knigge den Henkelzipfel als mitbezahlt und lassen ihn in der Handtasche verschwinden. An den feinsandigen Stränden noch nicht überlaufener Urlaubsparadiese begegnet man dem Henkelzipfel wieder. Dort schützt er die empfindlichen Näschen Höherer Töchter vor der notorisch unordentlichen Sonne. BuS
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