: Fundstücke aus Trizonesien
Die Günter-Neumann-Stiftung hat die Radioauftritte der legendären „Insulaner“ beim RIAS Berlin (1948–1964) auf CD herausgegeben: Ein Stück Berliner Nachkriegsgeschichte ■ Von Jan Feddersen
Am ersten Weihnachtstag des Jahres 1948 übertrug der RIAS, der Rundfunksender im amerikanischen Sektor zu Berlin, eine Sendung, die das Alltagsbewußtsein der Westberliner prägen sollte wie kein anderes Medienprodukt der Nachkriegszeit: ein Kabarettprogramm unter Leitung Günter Neumanns. Der Titel: „Der Club der Insulaner.“ Es war die Zeit, als die frühere, in Trümmern liegende Reichshauptstadt von der Siegermacht Sowjetunion zur Insel degradiert wurde: die Zufahrtsstraßen zu den Westsektoren waren über Nacht abgesperrt worden.
Damals wurde der Inselmythos geboren: Das freie Berlin, abgeschnitten von der Welt, eingekesselt von den sowjetischen Besatzern, organisierte wegen dieser Blockade die sogenannten Rosinenbomber – vorwiegend amerikanische Flugzeuge, die die Westberliner Bevölkerung mit Nahrungsmitteln versorgten. Gut drei Jahre nach Ende des Tausendjährigen Reiches war in Berlin vom Nationalsozialismus keine Rede mehr, der alte Feind war wieder der neue. „Dem Russen gegenüber“, schrieb Harald Martenstein, Jahrgang 1953, im Mai im Tagesspiegel, „hatte man, so unmöglich, wie er sich 1945 benommen hatte, nicht die Spur eines schlechten Gewissens.“
1948 war das Jahr, als in Berlin noch der hauptstädtische Ton dominierte, man war schließlich wer. Die nichtsowjetische Welt war weit, nur erreichbar über einen Korridor. Der Osten war höchstens Objekt des Bedauerns, vielfach auch des Gespötts: „Na, ihr habt det aber schlecht getroffen.“ Dies muß erzählt werden, ehe man die Erfolgsgeschichte eines Kabaretts würdigen kann, das wie höchstens noch die „Münchner Lach- und Schießgesellschaft“ während der sechziger Jahre, über politischen Einfluß verfügte: eben diese „Insulaner“, die wie keine andere Truppe diese Mär vom tapferen Inseldasein der Berliner inmitten des kommunistischen Reiches kultivierte. Bei „Bear Family Record“ ist jetzt eine acht CDs umfassende Box erschienen, auf der mit 148 Ausschnitten die Höhepunkte der knapp 150 Folgen zusammengefaßt sind.
Es sind wahre Schätze, die da geborgen wurden. Nicht nur, daß die Stimmen längst verstorbener Schauspieler wieder zu hören sind – Agnes Windeck beispielsweise, die in den sechziger Jahren als Omimi in den „Unverbesserlichen“ via Fernsehen zum Star avancierte. Bei den „Insulanern“ gab sie eine von zwei Klatschtanten, die sich immer auf dem Ku'damm trafen: „Ja, wo kommen Sie denn her?“ Ihre Partnerin war Tatjana Sais, Ehefrau Günter Neumanns, des Erfinders dieses zuerst nur als Funkkabaretts angelegten Unternehmens.
Ursprünglich hatte der RIAS die Sendung nur ins Programm genommen, um Neumann die Möglichkeit zu geben, seine satirische Zeitschrift „Die Insulaner“ zu preisen. Nach der Währungsreform ging diese Postille, allzusehr auf das Gestern gerichtet, allerdings ein: Als Kabarett lebte die Idee aber weiter. Einer Flut von Hörerbriefen wünschte sich dringend, daß die RIAS-„Insulaner“ ihr Unternehmen, die Zeitläufte unter die Lupe zu nehmen, fortführen würde.
Mit Witz und Humor, dem Volke jeweils lippensynchron abgeschaut, wurde der Stimmung nachgeforscht: Hörbar wird so nicht nur, wie sehr sich in Westberlin spätestens Ende der fünfziger Jahre eine Atmosphäre der Desillusionierung breitmachte. Bonn war, wenn auch provisorisch, so doch faktisch die Hauptstadt, Ostberlin hieß noch Pankow, die großen Konzerne zogen ihre Firmenzentrale von der Insel ab: Westberlin hing von da an endgültig am bundesrepublikanischen Subventionstropf.
Die Arbeit der „Insulaner“ spiegelte diese Gemütszustände zwischen alter Hauptstadtarroganz und neuer Front- und Inselstadtdeprimiertheit genau: Edith Schollwer und Walter Gross (in seiner Starrolle als „Der Funzionär“, eine ewige Lästerparabel auf Walter Ulbricht) gehörten zum Berliner Alltagsinventar, ihre Popularität war eine, die noch aus dem Radio geboren wurde.
Die Nomenklatura Westberlins, aber auch der Bonner Republik ließ es an Ehrerbietungen den „Insulanern“ gegenüber nicht fehlen, ob aus ehrlicher Zuneigung oder schon deswegen, weil niemand gegen die „Insulaner“ Wahlen gewinnen konnte: Bürgermeister Ernst Reuter soll sich im Falle von anderweitigen Terminen vom RIAS – der nicht zuletzt der „Insulaner“ wegen populärsten Funkstation auch im Osten der Stadt – Aufzeichnungen von den Programmen der „Insulaner“ geschickt haben lassen. In einem Brief entschuldigte er sich sogar dafür, daß der Truppe nur Freiheitsglocken in minderer Güte überreicht wurden. Auch Bundespräsident Theodor Heuss und der spätere Oberbürgermeister Westberlins, Willy Brandt, machten ihre Honneurs.
Neumann, auch Mitautor an Drehbüchern für die Filme „Das Wirtshaus im Spessart“ (mit Lilo Pulver) und „Wir Wunderkinder“ (mit Wolfgang Neuss), bekam dennoch Anfang der sechziger Jahre zu spüren, daß „Pankow“ selbst mit westlicher Borniertheit nicht aus der Welt zu schaffen war. Die aufkommende Stimmung der Dialogbereitschaft mit dem Osten trug nicht wenig dazu bei, daß die „Insulaner“ spätestens im Gefolge der 68er-Bewegung als Kalte Krieger verstanden werden konnten: Der Spruch „Ein Insulaner verliert die Ruhe nicht“ kam plötzlich in den Ruch des Ignoranten.
Die Box mit den besten Stücken der „Insulaner“ zeigt all dies: Wie die Bundesrepublik an ihrer exponiertesten Stelle, in Westberlin nämlich, sich mit der Demokratie auseinandersetzte. Neumann hat, man kann es überprüfen, oft Texte verfaßt, die auch die Sattheit einer beginnenden Wohlstandsgesellschaft kritisierten; Stücke, die die alte Kommißmentalität aufspießten und das Bewußtsein, daß das Gestern eigentlich nicht geschehen sein könnte. Daß der Westen im Vergleich mit dem Osten immer gut abschnitt – vor allem, was die praktischen Lebensfragen anbetraf – versteht sich von selbst.
Neumann starb am 17. Oktober 1972, acht Jahre nach der letzten Aufführung seiner „Insulaner“. Sein letztes Werk waren Chansons, die er zur TV-Sendung „Dalli Dalli“ (mit Hans Rosenthal) beitrug: Auch schöne Dokumente des letztlich durch Figuren wie Eberhard Diepgen kongenial verkörperten Berliners, der immer eine Spur Mittelmäßigkeit mit Hauptstadtbewußtsein verkettet – so wie die Typen bei den „Insulanern“.
1972, da war die Republik längst gespalten in Sozialliberale, die mit saturierten Fronstadtallüren kaum mehr etwas zu tun haben wollten, und dem Rest der Republik, den Spießern. Neumann gehört gewiß nicht zu ihnen, auch wenn ihm die radikale Attitüde der siebziger Jahre vollständig abging.
„Günter Neumann und seine Insulaner – Aufnahmen aus den Jahren 1948–1964“. Bear Family Records, Vollersode, 1995, 8 CDs mit 84seitigem Textbegleitbuch
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