: „Das ist ganz billiger Antikommunismus“
■ Uwe Wesel, Professor für Rechtsgeschichte an der Freien Universität Berlin, über das Verfahren gegen die sechs angeklagten Männer des ehemaligen DDR-Politbüro
taz: Was tun mit denen, die sich in der DDR schuldig gemacht haben?
Uwe Wesel: Die sich in schwerer Weise schuldig gemacht haben, müssen verfolgt werden. Aber man soll nicht das machen, was wir nun schon seit fünf Jahren machen, flächendeckend überall hingreifen, wo man meint, jemanden belangen zu können. Das halte ich für völligen Blödsinn.
Wer hat sich denn in diesem Sinne „wirklich“ schuldig gemacht?
Ich glaube, daß der Prozeß gegen den Nationalen Verteidigungsrat, der sogenannte Honecker-Prozeß, richtig war. Da sind zwar auch einige Fragezeichen angebracht; aber Honecker, Albrecht, Keßler und Streletz waren die wirklich Verantwortlichen für das sogenannte Grenzregime, und sie haben ziemlich viele Menschenleben auf dem Gewissen. Dieser Prozeß war in Ordnung. Ich bin auch noch einverstanden mit dem Prozeß der jetzt gegen die Generäle der Grenztruppen läuft. Die sind auch in erster Linie für die Grenze verantwortlich gewesen. Auch jener berühmte Grenzoffizier, der auf einen Flüchtling geschossen hat, der schon festgenommen war und wehrlos vor ihm lag, hat seine zehn Jahre zu Recht bekommen.
Und welche Prozesse sind nicht in Ordnung?
Der Prozeß gegen die obersten Generäle, das sogenannte Kollegium des Ministeriums für Nationale Verteidigung, ist vollkommener Quatsch. Was hat der Luftwaffenadmiral mit den Toten an Mauer und Stacheldraht zu tun? Neunzig Prozent der strafrechtlichen Verfolgung ist ganz billiger Antikommunismus, den wir uns längst hätten abschminken können. Der Kommunismus ist weg – Gott sei Dank –, und den wird es auch nicht wieder geben. Gott sei Dank. Diese Sache ist erledigt, was soll also das Ganze?
Was halten Sie von der Anklage gegen die ehemaligen Mitglieder des Politbüros?
Ich halte diese ganze Anklage für unsinnig. Natürlich ist es so, daß man daran zweifeln kann, ob nicht das Politbüro viel mächtiger war als der Nationale Verteidigungsrat. Und sicherlich sind in der Regel die entscheidenden Weichen dort gestellt worden und nicht in irgendwelchen staatsrechtlich zuständigen Organen. Aber: Die Leute, die man da jetzt belangt, mit Ausnahme Hagers und Mückenbergers wahrscheinlich, sind unmittelbar mit dem Grenzregime nicht befaßt gewesen. Auch juristisch stimmt es hier nicht. Die Anklage ging noch auf Tötung durch Unterlassen, und das heißt nichts anderes, als daß man ihnen nichts anderes nachweisen konnte, als ihre Mitgliedschaft im Politbüro. Und der Vorsitzende Richter der 27. Strafkammer, Herr Bräutigam, macht daraus ein aktives Tun, indem er sagt: Na ja, wer nur zusieht, der handelt mit. Das kann ich überhaupt nicht verstehen. Ich kann verstehen, wenn man Rachegelüste hat, gerade gegenüber jenen, die in der mächtigsten Position in der DDR gewesen sind. Aber das muß dann wenigstens juristisch sauber begründet werden. Das ist hier einfach nicht der Fall.
Bei den nationalsozialistischen Verbrechern wurde immer kritisiert, daß man die Schreibtischtäter, angeblich aus rechtlichen Gründen, nicht belangen konnte. Nun befürworten Sie, daß man – aus eben diesen rechtlichen Gründen – die ehemaligen Machthaber der DDR nicht bestraft. Ist das nicht ein Positonswechsel?
Das wirft man mir häufiger vor. Ich meine aber, daß ich meine Haltung nie geändert habe. Ich glaube, daß die Verfolgung der nationalsozialistischen Gewaltverbrecher nach 1949 bei uns völlig schiefgelaufen ist. Aber das ist überhaupt nicht damit zu vergleichen, was wir jetzt mit dem DDR-Unrecht tun. Die wirklichen Hintermänner, die man belangen kann, die soll man auch belangen, wie zum Beispiel die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats. Aber das Politbüro war von dem Grenzregime so weit entfernt, daß ich da juristisch nicht zu einer Verurteilung komme. Das ist genau so, wie wenn ich irgendeinen Naziminister, nehmen wir mal Herrn Schacht, für die Verbrechen der Einsatzgruppen im Osten verantwortlich gemacht hätte. Das ist einfach eine Frage der Nähe zu den Taten. Im übrigen ist es nicht so, daß man sagen kann, wir würden die Kleinen hängen und die Großen laufenlassen. Die Schreibtischtäter aus dem Nationalen Verteidigungsrat sind verurteilt worden, und mit den Kleinen sind wir sehr milde umgegangen.
Wie bewerten Sie die Verurteilung der Mauerschützen, die doch in der Regel nur das taten, was ihnen aufgrund des DDR-Grenzgesetzes und interner Befehle aufgegeben war?
Ich bin schon der Meinung, daß die Mauerschützenprozesse ungeheuer problematisch waren. Diese Verfahren sind ein Verstoß gegen das Grundgesetz mit seinem Rückwirkungsverbot.
Wird das Bundesverfassungsgericht diese Urteile bestehen lassen?
Ich glaube nicht.
Auch die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats, Albrecht, Keßler und Streletz, haben Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben. Wie schätzen sie deren Erfolg ein?
Ich denke schon, daß man die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats belangen kann. Sie trugen große Verantwortung und können sich nicht unbedingt mit der Existenz des Grenzgesetzes entschuldigen. Sie hätten nämlich die Macht gehabt, darauf hinzuwirken, daß der Paragraph, der das Schießen auf Menschen vorsah, aufgehoben wird.
Was das Bundesverfassungsgericht zu Keßler, Streletz und Albrecht im Honecker-Prozeß sagen wird, wissen wir nicht. Wenn es zu dem Ergebnis kommt, daß die Verurteilung verfassungswidrig war, werde ich das akzeptieren. Wenn sie zu dem Ergebnis kommen, sie waren verantwortlich, werde ich das auch akzeptieren.
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