: Die Zeit der vaterlosen Papageien
Leander Haußmann beginnt seine Intendanz am Schauspielhaus Bochum mit gleich fünf Premieren ■ Von Gerhard Preußer
Das Herz strahlt, und Bochum jubelt: Das Symbol des Lebens als Symbol des Theaters, zu schön, um wahr zu sein. Das neue Logo des Bochumer Schauspielhauses ist eigentlich Herz-Jesu-Kitsch. Doch Leander Haußmann hat es geschafft, er ist ein Star. Auch wer nicht ins Theater geht, kennt seine Anzugsmarke. Endlich sieht man im Fernsehen vom Theater nicht nur Krise, sondern Neuanfang, nicht nur zerfurchte Vaterfiguren und wüste Rebellen, sondern einen lieben Sohn.
Dieser Intendanzbeginn ist preiswürdig, die Deutsche Marketing-Medaille zum Beispiel hätte Haußmann sich verdient. Inszenierung überall. Alles ist anders als bei seinem Vorgänger Steckel. Doch einige Traditionen bleiben: Nach Steckels siebenstündigem Abschied mit angestrichenem „Hamlet“ folgt Haußmanns achtstündiger Einstand mit ungestrichenem „Platonow“. Kommen oder gehen, ein Ereignis muß es sein.
Der einzige Vorzug der in Bochum erstaufgeführten ungestrichenen Urfassung von Tschechows in der Handschrift titellosem Jugendwerk, das nun „Die Vaterlosen“ genannt wurde, ist ihre Länge. Nichts Wesentliches kommt gegenüber den bisherigen gespielten Strichfassungen hinzu, nur Seitenstränge, Nebenfiguren. Aber der Grad der Aufmerksamkeit, der Grad der Vertrautheit mit den Figuren ist anders. Am zweiten Abend, nach acht Stunden, fällt der unscharfe Blick auf alte Bekannte, die koproduzierende Phantasie des Zuschauers hat genügend Lockerungs- und Identifikationsübungen hinter sich, um selbständig weiterzufabulieren.
Am Anfang spielt eine ältere Dame Klavier. Dann steht sie auf, und das Klavier spielt alleine weiter. Das ist das Programm: Hier wird guter, alter Illusionismus betrieben, wissend, daß das heute unter Niveau ist. Schmiere mit Bewußtsein. Die Inszenierung ist konventionell bis zum Kitsch und plump bis zur Klamotte. Zu Beginn des vierten Aktes kommt der Bote mit einer Vorladung vom Friedensrichter. Der Bote stottert, dehnt die Szene durch aufreizende Tranigkeit. Beim Abgang verwechselt er Schrank- und Haustür. Lustig. Am Ende des vierten Aktes kommt ein kleines Kind in die leere Schulstube des zerrütteten Dorfschulmeisters Platonow, will unterrichtet werden von einem, der völlig ratlos ist. Der Gazevorhang senkt sich, die Szene erstarrt, im milden Gegenlicht steht Platonow rauchend mit dem Kind am Fenster. Dann Musik. Herzig.
Die Inszenierung ist ironisch und distanziert bis zum Kasperletheater. Vor allem durch das Spiel von Johann Adam Oest als Platonow. In den Szenen, in diesen dieser Waschlappen sich seiner vier Frauen zu erwehren versucht, ist Oest von hochfahrender Heftigkeit. Diese Streitszenen haben alle Bitterkeit des modernen Geschlechterkrieges. Und trotz aller altmodischen Dampfschauspielerei hat Oest eine wurschtige Distanz zum eigenen Verhalten. Sein Bewußtsein des ewigen Chargierens beglaubigt Tschechows Eigenwerbung, Platonow sei „der beste Ausdruck der heutigen Orientierungslosigkeit“. Vaterlos sind die Orientierungslosen nicht unbedingt. Oest hat zwar einen seiner ersten großen Auftritte in der Schimpfrede auf den Tod seines Vaters, doch dabei hört ihm sichtlich betreten Porfirij Glagoljev (Edzard Haußmann) zu, in der Rolle Vater des nichtsnutzigen Kirill, als Schauspieler Vater des Regisseurs. Die Ratlosigkeit der Söhne kommt wohl weniger aus der Abwesenheit der Väter als aus deren ratloser Anwesenheit.
Ein paar Tage später muß Edzard Haußmann einen anderen Spaß des Sohnes ausbaden. Er spielt die Titelrolle in „Ein Stück Scheiße“. Und dieses Stück ist Bestandteil eines Stückes, das zur komischsten und provinziellsten aller Theaterskandale der letzten Jahre geführt hat, die Stuttgarter Affäre um die Stücke eines Theaterkritikers und eines Dramaturgen. Der Kritiker wurde entlassen, der Dramaturg in Bochum uraufgeführt. Die Handlung von Andreas Marbers „Die Lügen der Papageien“: Ein Dramaturg schreibt ein Stück, damit ein Schauspieler darin den Satz sagen muß: „Ich bin ein Stück Scheiße“, damit einer dieser Papageien endlich einmal nicht mehr lügt. Der Stuttgarter Schauspieler war natürlich nicht bereit, das Stück zu spielen, in Bochum tut's der Intendantenvater. Sohn Haußmann hat dabei wenig inszeniert, aber immerhin reichlich Ironie hinzugegossen. Am Ende darf der Schauspieler den Autor erschießen. Der stirbt mit dem Satz: „Das steht gar nicht im Stü ...“ auf den Lippen. Womit er recht hat.
Daß Leander Haußmanns Intendanz die Machtergreifung der Spaßguerilla bedeute, wird seltsamerweise am ehesten von Dimiter Gotscheff, dem ältesten der drei neuen Hausregisseure, eingelöst. Sein „Amphitryon“ ist Kindertheater der besonderen Art. Von Kleists mühsam ausbalancierten Identitätsproblemen keine Spur. Aber jedes Wort eine Geste, und jede Geste ein Spaß.
Alle Figuren haben markante, stereotyp wiederholte Haltungen und Sätze. Am eindringlichsten ist die Bewegungs- und Satzschablone des Sosias (Joachim Król): Der marschiert mit soldatischem Schritt, aber gekrümmtem Rücken vorwärts, hält einen Kohlkopf in der ausgestreckten Hand wie Hamlet den Schädel Yoricks, deutet rhythmisch nach vorne auf den Kohl und sagt: „Ich bin ein Mensch“, dann deutet er zweimal hinter sich und sagt dazu: „Da komm' ich her, da geh' ich hin.“
Den Anspielungsreichtum dieser Ikone der Existenzialanalyse im Modus der Clownerie erreichen aber nur wenige von Gotscheffs bunten Einfällen. Kohlköpfe und Mohrrüben gibt es jede Menge. Beim Ehekrach zwischen Sosia und Charis agieren die beiden stumm, während Jupiter und Hermes auf den anderen Bühnenhälften für den Text und ordinäre Geräusche sorgen. Alkmenes Selbstzweifel im Dialog mit Jupiter werden gleich verfünffacht: Die ganze restliche Truppe setzt sich mit ihr Perücken auf und spricht dann im Chor. Das ist, wenn man Kleist vergessen kann, ganz amüsant, aber nicht drei Stunden lang.
Den Part des Spielverderbers im Bochumer Regie-Trio übernahm Jürgen Kruse. Sein Doppelprojekt mit Wedekinds „Musik“ und Euripides' „Medea“ ist ein düsteres Dementi zu Haußmanns Spaß-Motto. Die beiden scheinbar so disparaten Stücke werden im selben Bühnenbild mit identischen Schauspielern gespielt. Die Parallelen sind schnell klar: Frauen werden wahnsinnig, ihre Kinder sterben in einer Männerwelt.
Aber Kruses Inszenierungen sind alles andere als feministische Sozialkritik. Sie sind verstörende Bilder der Ratlosigkeit. Kruse und sein Bühnenbildner Joseph Mayer füllen die Bühne mit allerhand Gerümpel und Geräuschen und allerhand alles mögliche sagenden Schauspielern. Wenn man diesen Eindruck von Verwirrung und Beliebigkeit nach einer Weile durchdringt, sieht man die Geschichte der Zerstörung einer Frau. Kruses Manierismus findet seinen notwendigen Gegenpart im klaren, kühlen Spiel seiner Protagonistin Anne Tismer. In „Musik“ sagt sie als Klara Hühnerwadel: „Meine Höllenqualen verkehren sich in Lächerlichkeit.“ Ihr Spiel verbindet beides, Qual und Distanz. In der weit weniger dichten Euripides-Inszenierung hat sie als Medea einen langen Moment extrem gespannter Ruhe bei dem ersten Gedanken an die Tötung ihrer Kinder: eine Leerstelle im Zeichendschungel der Inszenierung, aber ein Moment intensivster Wirkung.
So hat das Bochumer Schauspielhaus nicht nur einen einzigen Star, und Spaß ist nicht das einzige, was man dort haben kann.
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