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Kulturalismus versus Universalismus oder Das ungeduldige Auflösen von Widersprüchen im kulturellen „Diskursfeld“: Ethnologische Anmerkungen zu einer Debatte und ihren praktischen Konsequenzen ■ Von Werner Schiffauer
Die Debatte um die Ausgestaltung der multikulturellen Gesellschaft ist gekennzeichnet durch die Frontstellung von Kulturalisten und Universalisten. Besteht die eine Seite auf dem Recht kultureller Selbstverwirklichung, auf dem Recht, anders zu sein, so sieht die andere Seite in dieser Forderung eine gefährliche Sackgasse, die letztlich in Ausgrenzung und Unterdrückung endet.
Die universalistische Position, wie sie führend von Alain Finkielkraut (1989) und in Deutschland unter anderem von Wolfgang Pohrt (1992) vertreten wird, kritisiert massiv das Konzept der „multikulturellen Gesellschaft“. Der Begriff suggeriere, so die Kritik, daß unsere Gesellschaft aus verschiedenen Kulturen (und nicht etwa Klassen) zusammengesetzt sei. Damit werde unter anderem nahegelegt, daß die Schwierigkeiten von Migranten in der hiesigen Gesellschaft im Bereich der Kultur – und nicht etwa in dem der Gesellschaft – zu lokalisieren wären. Das, was im Grunde ökonomische oder politische Konflikte seien, werde als Kulturkonflikt beschrieben. Dies sei bestenfalls eine Ablenkungsstrategie, da es billiger sei, für Verständnis zwischen Deutschen und Ausländern zu werben, als den sozialen Wohnungsbau zu fördern. Wenn das Thema Kultur ins Zentrum rücke, werde der andere auf seine Andersartigkeit festgelegt. Wie groß die damit verbundenen Gefahren sind, sehe man unter anderem an der Leichtigkeit, mit der die Rechte den kulturalistischen Diskurs aufgreife – Le Pen etwa fordere unter Berufung auf kulturelle Identität (nämlich der der Franzosen), den Zustrom von Fremden zu stoppen. Der neue Rassismus argumentiere durchweg kulturalistisch: an die Stelle der Reinheit der Rasse trete die Reinheit der Kultur.
Ein entscheidender Denkfehler, so die universalistische Position, sei die Übertragung des Begriffs der Kultur von dem Ort, an dem seine Existenz berechtigt sei, nämlich dem Bereich der Hochkultur, auf den der Alltagskultur, der ethnischen Kultur oder der Sub- und Partialkultur. Damit werde der schlichten Alltagspraxis der Nimbus von Kultur umgehängt und so getan, als sei sie etwas Schützenswertes. Spätestens seit der Durchsetzung einer universalen kapitalistischen Massenkultur sei dies nicht mehr statthaft. Letztendlich führe dies nur zu einem Narzißmus der kleinen Differenz, zu einer Überbewertung unterschiedlicher Konsumstile.
Die kulturalistische Gegenposition wurde in ihrer elaboriertesten Form von Charles Taylor (1993) formuliert. Sein Ausgangspunkt ist das menschliche Grundbedürfnis nach Anerkennung, das er mit guten Gründen als universal ansieht. Dieses Bedürfnis nach Anerkennung erschöpfe sich nicht – wie die Universalisten meinten – in der Anerkennung der allgemeinen Menschenwürde. Vielmehr gebe es darüber hinaus auch das – nicht weniger grundlegende – Bedürfnis des Individuums, in seiner Besonderheit anerkannt zu werden. Denn – so Taylor im Anschluß an Kant – woraus leiten wir denn den Anspruch eines jeden Menschen auf Anerkennung seiner Würde ab? Doch wohl aus seiner Fähigkeit zu vernünftigem, selbstbestimmtem Handeln – zu einem individuellen Selbstentwurf, zu einer eigenen und unverwechselbaren Identität. Kurz: Man will nicht nur als Mensch anerkannt werden, sondern auch als besonderes Individuum – so wie man ist. Und weil der eigene Entwurf immer auf der Herkunft des Einzelnen aufbaut, heißt dies auch: so wie man geworden ist. Man formuliert mit diesem Anliegen das Recht, sich selbst treu bleiben zu dürfen. Damit wird die Anerkennung von etwas gefordert, was zwar allen zukommt, was inhaltlich jedoch sehr verschieden ist. Oder um es mit einem Schlagwort zu sagen: Es wird das Recht auf Differenz eingefordert.
Dieses Recht auf Differenz kann, so fährt Taylor fort, nicht nur auf Individuen beschränkt werden. Und zwar deshalb, weil es unter bestimmten Umständen nur dann nicht ausgehöhlt und illusorisch wird, wenn es kollektiv vertreten wird. Dies ist etwa bei der Sprache der Fall. Das Beispiel, das Taylor im Auge hat, ist das der Frankokanadier der Provinz Quebec. Hier wurde der Erhalt der durch das Englische in Bedrängnis geratenen französischen Sprache – analog zur Umwelt – zu einem kollektiven Gut erklärt, das es nicht nur zu erhalten, sondern auch zu mehren gilt. Weitreichende Konsequenzen werden aus diesem Prinzip abgeleitet. Neben dem Verbot von Werbung in einer anderen als der französischen Sprache und der Pflicht, in größeren Unternehmen französisch zu sprechen, wird es den frankophonen Familien und Einwanderern auferlegt, ihre Kinder auf französische Schulen zu schicken. Wenn, wie hier, kollektive Rechte eingefordert beziehungsweise Pflichten angemahnt werden, gerät diese Position in Konflikt mit der universalistischen Position: denn nun werden Verpflichtungen für den einzelnen aus seiner Herkunft abgeleitet.
Die Differenz der beiden Positionen liegt in ihrer Bewertung der Alltagskultur – der ethnischen Kultur, der religiösen oder sozialen Subkultur. Die universalistische Position sieht in der Alltagskultur nur Alltagspraktiken, Konsumstile, deren Bedeutung man nicht übertreiben sollte. Die andere Position mißt der Alltagskultur eine entscheidende Rolle zu: Sozusagen die des Wassers, in dem der einzelne schwimmt, der Luft, die er atmet. Eine Mißachtung der Bedeutung von Kultur ist schlimm, wenn nicht katastrophal. Sie bedeutet die Mißachtung des Rechts auf Anerkennung und kann erhebliches Leiden nach sich ziehen.
Die Kulturanthropologie ist in den letzten Jahren radikal von der Herderschen Definition von ethnischer Gruppe (Volk) als Kollektiv mit geteilter Sprache, Geschichte und Kultur abgerückt. Kultur wird immer häufiger als „Diskursfeld“ konzipiert, als eine Arena, in der Werte, Normen, Deutungsmuster von kulturellen Akteuren ständig neu „verhandelt“ werden – „verhandelt“ in Anführungszeichen, weil kulturelles Handeln zwar immer zeichenhaft, aber nicht immer sprachlich ist: Kulturelle Rebellionen finden oft im Bereich der Moden, der Musik oder der bildenden Künste statt. Mit dieser Konzeption wird nun jeder Bestimmung von Kultur als Substanz, als Wesen oder als Struktur eine Absage erteilt – statt dessen wird sie primär als Prozeß konzipiert.
Ein Diskursfeld kann und muß unter zwei Aspekten beschrieben werden. Der erste Aspekt ist jener der Stabilisierung der geltenden Regeln und Prämissen in einem derartigen Diskursfeld. Wenn man in einem Diskursfeld seine Deutungen der Welt durchsetzen will, dann muß man sich auf andere Akteure beziehen – auf ihre Standards der Gerechtigkeit, auf ihre Standards der Argumentation, auf ihren Stil oder auf ihre Erinnerungen und Vorstellungen. Nolens volens bekräftigt und bestätigt man in diesem Akt zumindest den einen oder anderen Standard – man baut an dem weiter, was man als kulturelle Gemeinsamkeiten bestimmen könnte. Aus diesem Grund kann man, auch wenn man eine offene und prozessuale Auffassung von Kultur vertritt, von den Normen, Werten und Deutungen sprechen, die die Angehörigen einer Kultur (für eine gewisse Zeit) teilen. Man muß es sogar, wenn man zwei wichtige Aspekte des Verhältnisses von Macht und Kultur nicht aus den Augen verlieren will: Dies ist zum einen die Frage nach den kulturellen Aus- und Abgrenzungsmechanismen, die diejenigen treffen, die die in einem gegebenen Feld geforderten kulturellen Techniken nicht beherrschen. Pierre Bourdieu hat eindringlich klargemacht, wie ein Mangel an kultureller Kompetenz wie auch an Fähigkeiten, souverän an einem Diskursfeld zu partizipieren, die Chancen verringert, die eigenen Deutungen durchzusetzen. Dies bedeutet Machtlosigkeit. Nicht weniger wichtig ist die Frage nach kultureller Entfremdung: Sie tritt ein, wenn die Regeln eines Diskursfeldes aufgrund von Machtverschiebungen verändert werden. Den Ostdeutschen wurde etwa mit der Wiedervereinigung ein ganzes Arsenal an kulturellen Strategien genommen, mit denen man im Diskursfeld „DDR“ Punkte sammeln konnte. Mit kultureller Entfremdung geht die Erfahrung einher, sprachlos gemacht zu werden, das Gefühl, den Teppich unter den Füßen weggezogen zu bekommen.
Nicht weniger zentral ist es jedoch, ein Diskursfeld auch aus einer anderen Perspektive zu betrachten, nämlich der der ständigen Veränderung der Standards und Regeln. Sie hängt zum einen mit der Tatsache zusammen, daß man zwar Bezüge zu den Positionen anderer herstellen muß, wenn man sich durchsetzen will, dies aber in der Regel nur partiell macht. Nicht selten wird etwa auf geteilte Erfahrungen Bezug genommen, um andere, bisher geltende Normen und Werte in Frage zu stellen oder gar anzugreifen. Neue Positionen drücken also nicht nur kulturelle Standards und Regeln aus, sondern modifizieren sie ständig. Hinzu tritt, daß Kulturen – Diskursfelder – vielfach geschichtet sind. In jedem Diskursfeld gibt es Gegendiskurse, latente und unterdrückte Diskurse, Partialdiskurse, jeder mit eigenen Standards von Gerechtigkeit, Wahrheit usw. Schließlich sind Diskursfelder prinzipiell offen: Sie haben keine klaren Grenzen nach außen – sondern sind vielfach miteinander vernetzt. Es gilt, diesen dynamischen
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Aspekt von Kultur im Auge zu behalten, um andere, ebenfalls sehr wichtige Zusammenhänge von Kultur und Gewalt nicht aus dem Auge zu verlieren. Dies sind etwa die Fragen, die gegenwärtig unter dem Gesichtspunkt von „kulturellem Rassismus“ diskutiert werden – nämlich die Festlegung des Anderen auf seine Kultur und Herkunft, die nicht selten mit dem Zu- oder Absprechen von Kompetenz verbunden wird.
„Kultur“ muß also immer unter einem doppelten Aspekt betrachtet werden, wenn man die vielfältigen mit ihr verbundenen Machtmechanismen analysieren will: Sie muß einmal betrachtet werden, als ob sie ein vergleichsweise geschlossenes System von Standards und Regeln darstellen würde, und zum anderen als ob sie ständig im Fluß wäre. In gewissem Sinn muß die Kulturanalyse deshalb verfahren wie die Physik, die einmal die Teilchen- und ein andermal die Wellennatur des Lichtes ins Auge faßt.
Es läßt sich einfach sehen, daß die kulturalistischen und universalistischen Positionen jeweils einen der beiden Aspekte von Kultur verabsolutieren und damit die Komplexität des Phänomens reduzieren. Die kulturalistische Position bezieht sich auf die Tatsache, daß Normen und Werte, Standards von Gerechtigkeit usw. geteilt werden, und hypostasiert sie. Sie konstruiert aus dieser Tatsache die Idee einer Kultur mit einem Zentrum und einer Grenze, mit einem Ursprung und (nicht selten) einer Mission und leugnet damit die prinzipielle Offenheit und Lebendigkeit einer jeden Kultur. Eine derartige Position wird oft in der Defensive eingenommen: Eine Kultur, die es vorgeblich zu schützen gilt, wird festgeschrieben und mit eindeutigen Grenzen versehen. In diesem Akt wird eine Kultur, eine Tradition und eine Geschichte konstruiert und mit dem Hinweis auf Authentizität eingeklagt. Das Dilemma der kulturalistischen Position liegt demnach darin, daß die Akteure eines Diskursfeldes ihre „Kultur“ verteidigen, indem sie sie stilisieren, reduzieren und standardisieren. Es handelt sich um einen Prozeß, der tendenziell zur Selbstverkapselung führt. Ein kulturelles Milieu, das sich der ethnischen Politik verschreibt, wird rigide und fundamentalistisch, damit seine Angehörigen sich selbst treu bleiben können.
Die universalistische Position betont dagegen die Tatsache des ständigen Neuverhandelns und radikalisiert sie dahingehend, daß man nicht mehr von „Kulturen“ sprechen sollte, sondern nur von Individuen – also nicht mehr von „deutscher“ oder „islamischer“ Kultur, sondern nur von „Deutschen“ oder „Muslimen“. Sie leugnet damit die ebenso evidente Tatsache, daß es kulturelle Kompetenz gibt, und damit die Tatsache, daß Kultur in gewissem Ausmaß im Sozialisationsprozeß internalisiert wird. Was dieser Analyse entgeht, ist die Einsicht in Prozesse wie jene der kulturellen Entfremdung, der kultureller Diskriminierung oder des kulturellen Imperialismus. Damit verbaut sich diese Position die Einsicht in die Mechanismen, die eine der mächtigsten Triebfedern unserer Zeit sind: Nämlich die allgegenwärtige Renaissance von Fundamentalismen und Kulturalismen. Da diese Position letztendlich nicht mehr von Kultur spricht, muß sie all den Akteuren, die für ihre Kultur Anerkennung fordern, ein falsches Bewußtsein unterstellen.
Damit soll nicht der Anschein erweckt werden, daß hier für ein bläßliches Sowohl-als-auch plädiert würde. Ich möchte deshalb in einem letzten Schritt die Konsequenzen der hier entwickelten Position für die Situation der türkischen Migranten in Deutschland skizzieren.
Die Gruppe der Migranten ist zunächst religiös in sich äußerst differenziert. Aleviten, surianische Christen, Yeziden und Sunniten bilden die großen Fraktionen. Diese Gruppen setzen sich gegeneinander ab – und zum Teil miteinander auseinander. In jeder dieser Gruppen kommt es zu Prozessen der Bewußtseinsbildung: In der surianischen und alevitischen Gemeinde finden Diskussionen statt, ob man sich als ethnische Gruppe oder als religiöse Gruppe verstehen sollte. In den sunnitischen Gemeinden gibt es eine wichtige Diskussion über den politischen Charakter, den der Islam haben sollte oder nicht. Hierüber spalten sich die Gruppen in mindestens fünf Gemeinden.
Gleichzeitig artikulieren sich die unterschiedlichen linguistischen Gruppen zum Teil stärker und selbstbewußter als in der Türkei – hier sind vor allem die drei kurdischsprachigen Gruppen zu nennen. Die Sprachgrenze zwischen Kurden und Türken steht im übrigen quer zu der Scheidung von Sunniten und Aleviten. Quer zu den sprachlichen Gruppen differenzieren weiterhin Klassenzugehörigkeiten die Bevölkerung: Die türkische Mittelschicht hat deutlich andere Vorstellungen von Geschmack, von Wert- und Wahrheitsfragen als die Arbeiterklasse.
Schließlich ist die Kultur der türkischen Arbeitsmigranten in der Bundesrepublik ein Feld symbolischer Auseinandersetzungen, die für Dynamik und interne Weiterentwicklung sorgen. Eine starke, kämpferisch republikanische Tradition steht gegen verschiedene islamische Gruppen und ethnische Gruppen. Für Dynamik sorgt aber auch die Auseinandersetzung vor allem der zweiten Generation mit der bundesrepublikanischen Gesellschaft.
All dies zeigt, daß von der „türkischen Kultur“ in der Bundesrepublik nur im Sinne eines lebendigen und offenen Diskursfeldes gesprochen werden kann, in dem sich auf verschiedenen Ebenen auseinandergesetzt wird. Die Heterogenität der Positionen, die eingenommen werden, bedeutet indes nicht, daß sich die Frage nach der Anerkennung nicht stellen würde. Es gibt ein Bedürfnis danach, allerdings nicht in der statischen Form, in der Taylor es einführt. Was nach Anerkennung heischt und der Anerkennung bitter bedarf, ist nicht die Anerkennung als Türke (oder auch als Muslim), sondern die Anerkennung der besonderen Lage, als Türke in Deutschland zu leben. Es geht um die Anerkennung der Prozeßhaftigkeit, der Komplexität und der Dynamik der Situation: Es geht um die Tatsache, daß man in einer der türkischen Kulturen aufwächst, dort eine bestimmte Kompetenz erwirbt und sich mit dieser Ausgangslage in einer Gesellschaft bewegt, deren Diskurs sich auf zum Teil diametral entgegengesetzte Werte bezieht. Diesem Prozeß möchte ich mich nun zuwenden, indem ich das Feld, in dem die Auseinandersetzung mit der deutschen Gesellschaft stattfindet, betrachte, nämlich die Schule.
Der schulischen Ausbildung wird von praktisch allen türkischen Migranten der ersten Generation, mit denen ich gesprochen hatte, ein erheblicher Wert zugemessen. Die Notwendigkeit einer soliden Ausbildung für einen gesellschaftlichen Aufstieg ist ihnen bewußt. Gleichzeitig werden sie mit der Tatsache konfrontiert, daß in der Schule Normen und Werte vertreten werden, die von denjenigen des Elternhauses massiv abweichen – wobei allerdings weniger die von der Institution vertretenen Normen Ängste verursachen als diejenigen, die sich subinstitutionell etwa in den peer-Gruppen der jungen Deutschen entfalten. Die Eltern sehen sich somit vor einen Zielkonflikt gestellt. Sie müssen abwägen zwischen der Notwendigkeit, die Kinder auf die Gesellschaft vorzubereiten, und der Angst, daß die Kinder ihnen aufgrund eines anderen Wertefeldes fremd werden könnten. Während sich dieses Problem in allen Familien sehr ähnlich stellt, gibt es eine ganze Bandbreite von Möglichkeiten, damit umzugehen. Einige tendieren dazu, die Kinder offensiv auf die deutsche Gesellschaft vorzubereiten. Sie messen der Vorbereitung auf die Gesellschaft eine größere Bedeutung bei als dem Schutz vor ihr. Andere – eher religiöse – Familien, denen die Vermittlung von Werthaltungen stärker am Herzen liegt, tendieren dagegen dazu, die Kinder vor den anderen Einflüssen schützen zu wollen. So werden Korankurse nicht selten damit begründet, daß man damit die Kinder gegen problematische Einflüsse wappnen könne. In Extremfällen werden Institutionen wie Kindergärten gemieden. Besonders ernst und zugespitzt wird nun der Zielkonflikt dann erlebt, wenn die Kinder in die Pubertät kommen. Hier tritt nun zu der Angst vor der Entfremdung die Sorge um die Gefährdung der Kinder in der deutschen Umwelt. Religiöse Familien sehen sich aus dieser Angst heraus nicht selten genötigt, die Mädchen nach der fünften Klasse in islamischen Internaten in der Türkei einzuschulen – was von allen Familien, die sich dazu entschieden haben, als problematisch empfunden wurde. Wie immer man sich auch zu dem Zielkonflikt im einzelnen verhält: Er selbst wird von allen und gerade auch von den fundamentalistischen Familien als problematisch erlebt. In der einen oder anderen Hinsicht fordert er Abstriche vom Wünschbaren. Dieses Handlungsproblem ist es, dessen Anerkennung die türkischen Familien wünschen.
Bisher habe ich die Situation aus der Perspektive der ersten Generation geschildert; für die zweite Generation stellt sie sich etwas anders dar. Das Problem konkurrierender und zum Teil sich widersprechender Normen- und Wertesysteme wird bei den hier geborenen und aufgewachsenen Deutsch- Türken (bzw. Turko-Deutschen) durch einen zweiten Aspekt überlagert: Sie wurden heimisch in einer Gesellschaft, die ihnen jedoch den Status der Zugehörigkeit verweigert, sie weiterhin als Fremde behandelt und durch Gewaltakte ausgrenzt.
Auf diesem Hintergrund haben die meisten Angehörigen der zweiten Generation versucht, eine Perspektive für sich zu entwickeln, die man als Individuierung aus der Negation charakterisieren könnte. Damit meine ich eine tentative, vorsichtige Art der Selbstverortung, die eher ausdrückt, was man nicht ist, als das, was man ist. Damit einher geht ein Insistieren auf einen individuellen Weg zwischen diesen Widersprüchen. In diesem Feld wurde (und wird) jede positive Zuschreibung als eine unzumutbare Festlegung empfunden. Gleich empfindlich reagieren daher etwa viele Türken der zweiten Generation in Deutschland, bzw. Deutsche türkischer Herkunft, wenn man sie auf eine der Dimensionen festlegt, sie entweder unter „Türken“ subsumiert („du als Türke“) oder ihnen das „Türkisch- Sein“ abspricht („du bist doch schon kein Türke mehr“): Sie sind beides und sie sind keines; und sowohl die Zuschreibung wie auch das Absprechen einer nationalen Identität wirkt daher gewaltsam – wie ein ungeduldiges Auflösen von Widersprüchen, die nicht angenehm sind, die aber ausgehalten werden müssen, weil die Alternative nur die Verdrängung und Abspaltung des einen oder des anderen Teiles wäre.
Dies ist der Kontext, in dem der Wunsch nach Anerkennung situiert ist. Es ist das Anliegen, in einer widersprüchlichen, manchmal zerrissenen Lebenssituation nicht noch zusätzliche Steine in den Weg gelegt zu bekommen. So ist die Forderung nach dem Kopftuch nicht der Wunsch, eine ethnische Kolonie zu gründen, sondern der Wunsch, die Töchter in Deutschland ausbilden zu können und sie nicht in die Türkei zurückschicken zu müssen. Es verhält sich damit wie mit der Forderung nach doppelter Staatsangehörigkeit, die vor allem für die zweite Generation relevant ist: Hinter ihr steht der Wunsch, hier, in einer sehr schwierigen Gesellschaft, Fuß fassen zu können, ohne sich ihr ausliefern zu müssen, kurz: Es ist der Wunsch, Fuß zu fassen, trotz Ausländerfeindlichkeit. Diese Forderungen sind Forderungen nach Anerkennung eines kulturellen Hintergrundes, ohne daß sie ethnische Forderungen sind: Es geht nicht um die Errichtung und Verewigung einer Kolonie, sondern es geht ganz konkret um die Bewältigung einer schwierigen Situation.
Wenn man die Lage unter dieser Perspektive betrachtet, läßt sich die Frage einfach durchspielen: Jede republikanisch-universalistische Prinzipienreiterei – ob sie nun nach französischem Muster säuberlich säkular von sakral scheidet oder ob sie nach dem deutschen Muster auf einer paternalistisch-grundsätzlichen Haltung besteht („eine Sonderbehandlung wird nicht eingeräumt“, „die Migranten müssen sich zwischen hier und dort entscheiden“) – erhöht den Druck auf die Migrantenfamilien und spitzt die Handlungsdilemmata zu. Sie führt fast von selbst zu einer Verhärtung. Ein türkischer Jugendlicher in Berlin hat dies in einem bemerkenswerten Satz auf den Punkt gebracht:
„Hör mal, was soll denn das? Wir sind doch keene, daß wir uns zwingen lassen, irgend etwas zu machen. Wer sind wir denn überhaupt? Außerdem: Wo leben wir denn? Wie ich vorhin gesagt habe: Wir sind Muselmanen, und dabei bleibt es. Hier kann jeder machen, was er will. Und wenn die noch weiter gackern, dann laß ich meine Frau auch Schleier anziehen, obwohl sie Hosen anhat. Dann soll sie Schleier anziehen. O.k., das mach ich, wie es mir paßt. Da kann mir keiner sagen, das werden wir nach und nach ändern. Wer sind wir denn?“ Aus dem Zitat blitzt auf, was aus der Verweigerung der Anerkennung resultieren kann: legitime Wut und ethnische Verhärtung, die sich selbst Gewalt antut, um sich zu behaupten.
Die Forderung, die ich aufstellen würde, lautet: Anerkennung der schwierigen Situation, vor die ein Angehöriger einer der türkischen Kulturen in Deutschland gestellt ist – gerade um zu vermeiden, daß ethnische Politik entsteht. Die Befreiung der Mädchen vom Turnunterricht, unter Umständen vom Sexualkundeunterricht; die Einrichtung von Curricula (und zwar hier für Deutsche und Migranten), die besonderes Gewicht den Herkunftsländern und der Geschichte jener Staaten beimessen, die Migranten entsenden, Flexibilität in bezug auf die Errichtung konfessioneller Schulen – all dies hilft den Migranten, die schwierigen und in sich widersprüchlichen Ansprüche von familialer Bindung, gesellschaftlicher Integration und der Genese von sinnvollen Lebensentwürfen zu ermöglichen. Sie erlaubt es ihnen, sich tatsächlich hier zu integrieren, nämlich in der Anerkennung ihrer besonderen Lage, ein Teil dieser Gesellschaft zu werden.
Lassen Sie mich zum Schluß etwas zu dem Argument sagen, das nun mit Sicherheit laut wird. Es lautet: Wenn wir so viele Sonderrechte einräumen, dann zerfällt die Gesellschaft. Zwei ziemlich pausbäckige Argumente stehen hinter dieser Furcht: 1. Wenn wir ihnen den kleinen Finger reichen, nehmen sie gleich die ganze Hand. 2. Wenn wir dies den einen gewähren, kommen sie alle. Beide Argumente entsprechen nicht der sozialen Logik. Sie berücksichtigen die Tatsache nicht, daß Kultur ein prozessuales Phänomen ist. Tatsächlich erlaubt die Flexibilität seitens der Mehrheitsgesellschaft, daß sich die kulturelle Dynamik entfalten kann – und es gerade nicht zu Verhärtungen und Festschreibungen kommt. Eine liberale und offene Politik gegenüber kulturellen Forderungen führt gerade nicht zu Ghettos und Grenzziehungen, sondern zu offenen und fruchtbaren Auseinandersetzungen.
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