■ Die kleine Breitseite: Enteignet Wickert!
Sonntag nachmittag. Ich denke an nichts Böses, da klingelt das Telefon: „Guten Tag, mein Name ist Tschanett, Bild- Zeitung. War Herr Wickert am Freitag abend in der NDR-Talk- Show eigentlich betrunken?“
Man sollte Bild auch nicht eine Frage beantworten, das habe ich noch bei Günter Wallraff gelernt, aber hier ging es um Ulrich Wickert, also fragte ich zurück: „Hatten Sie den Eindruck?“ Madame Tschanett: „Er soll einige Bierchen getrunken haben.“ Ich: „Haben Sie die Sendung nicht gesehen?“ Nein, aber Bild hatte mitgezählt. Mindestens „vier Bierchen“ und später dann noch „zwei, drei Weinchen“. Aber hier irrt Bild, und wenn Bild irrt, hat Bild meistens gelogen. Von „Weinchen“ kann gar nicht die Rede sein, denn der Rebensaft wurde vom Produzenten Armin „Big“ Diehl persönlich eingeschenkt, und der macht wahrlich keine „Weinchen“, sondern große Nahe-Weine, auch wenn er die naheliegende Frage nach dem Zuckergehalt lieber weit von sich schiebt.
Warum eigentlich? Der Weiß- /Grauburgunder Barrique namens „Viktor“ hat Ulrich Wickert wie auch mir unverdächtig gut gemundet. Die Stimmung war richtig ausgelassen, Wickert war regelrecht enthemmt, quatschte ständig dazwischen, brillierte als Plaudertasche alter Schule, und als ich ihn fragte, was denn sein nächstes Buch sei, eine kommentierte Ausgabe des Kapitals, des Kamasutra oder der Bibel, blieb er diplomatisch.
Dann aber geschah, was nicht mehr hätte geschehen dürfen. Weinkönig Diehl („Deal de Deal“) hatte gerade eine Blindprobe über sich ergehen lassen müssen, und die Moderatorin hatte ihn genötigt, einen Wein zu erkennen, den er gar nicht getrunken hatte, da kam Wickert noch mal an die Reihe.
Anstatt zu parlieren, begann er zu dozieren: Ethik, Tugend und Mittelmaß – da ist Wickert ganz in seinem Element. „Sein“ Buch der Tugenden: ein ziegelsteindickes Kompendium des Weltgeistes, auf dessen Deckel „Ulrich Wickert“ prangt – hätte er nicht wenigstens „Ulrich Wickert u.a.“ schreiben können? Ach ja, ich vergaß, Bescheidenheit ist ja keine Kardinaltugend.
Wickert ist ein Paradebeispiel dafür, wie übertriebene Eitelkeit Intelligenz paralysieren kann. Übrig bleibt nur noch Geschäftssinn. Aristoteles kann nun mal kein Honorar mehr verlangen – Wickert kassiert. Präsenz in den „Tagesthemen“ ist die Geschäftsbasis. Moral heißt die Marktlücke. Doppelmoral ist die Methode. Wickert macht auf „glaubwürdig“ und scheint von tugendhaftem Gardemaß.
Im Lichte der gern herbeizitierten preußischen Tugenden betrachtet, ist Wickert allerdings eher ein Preußenkrüppel, einer – und hier lügt Bild ausnahmsweise nicht –, der auszog, „den Hals nicht voll zu kriegen“. Am Sonntag fragte Bild „Fliegt Wickert?“, am Montag begann Wickert wohltätig den Hals zu leeren. 50.000 Mark vom „Deutschen Herold“ fließen jetzt als gemeinnützige Atzung in einen Potsdamer Sozialfonds.
Auch das muß ein Moderator können: blitzschnell umschalten von geschäftstüchtig auf bußfertig, damit er auch morgen noch (selbst)gefällig durch den Teleprompter blicken darf. Seine weiblichen Fans werden begeistert sein. Er bleibt eben doch ein Charmeur – das ist französisch, zu deutsch: Schleimer. Matthias Deutschmann
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