: Urnengang im algerischen Bürgerkrieg
■ Die Bevölkerung in Algerien ist gefangen im Krieg zwischen Islamisten und Militärs, eine Lösung nicht in Sicht. Dennoch wird heute ein Präsident gewählt Von Thomas Dreger
Urnengang im algerischen Bürgerkrieg
Wer es nicht mehr aushält, der wählt Drogen oder das Gebet, in Algerien häufig beides. „Vor vier Jahren habe ich angefangen zu beten. Zuvor habe ich viel mit jungen Leuten diskutiert, die sich bei den Moscheen aufhalten“, erzählte der 26jährige Algerier Abd al-Haq einer Journalistin. Zum regelmäßigen Gang in die Moschee habe ihm aber die Energie gefehlt. „Ich habe mich wieder dem Alkohol und den Drogen zugewandt. Ich habe kaum noch Hoffnung. Ich hänge mit allen herum: mit denen, die beten, mit denen, die saufen, und mit denen, die kiffen.“
Etwa 75 Prozent der über 26 Millionen AlgerierInnen sind jünger als dreißig Jahre, die meisten von ihnen sind arbeitslos. Wegen der eklatanten Wohnungsnot – Großfamilien müssen sich häufig Zweizimmerwohnungen teilen – hängen sie tagsüber auf den Straßen herum, lehnen an den Hauswänden. „Hittisten“ werden sie genannt, „jene, die die Mauern stützen“.
Als die AlgerierInnen im Dezember 1991 erstmals ein freies Parlament wählen durften, votierten im ersten Wahlgang 47,27 Prozent für die „Islamische Heilsfront“ (FIS). Besonders viele „Hittisten“ belohnten das Heilsversprechen der Islamisten mit einem Kreuz. Weil für den zweiten Wahlgang ein Sieg der FIS abzusehen war, annullierten die Machthaber – eine Clique aus Militärs und Funktionären der alten Nomenklatura – die Wahl und verboten die FIS. Seither herrscht in Algerien Bürgerkrieg; bis zu 60.000 Menschen sollen ihm zum Opfer gefallen sein.
Die um ihren Wahlsieg betrogenen Islamisten machen Jagd auf Repräsentanten des Regimes: Politiker, Militärs, Richter, Polizisten. Schwarzvermummte „Sicherheitskräfte“ – wegen ihres Aufzugs „Ninjas“ genannt – verfolgen alles, was nach Islamist aussieht. Die Militantesten der Militanten, organisiert in den „Bewaffneten Islamischen Gruppen“ (GIA), meucheln alles, was ihnen unislamisch erscheint – Ausländer, westlich orientierte Intellektuelle und Journalisten, Frauen, die sich nicht verschleiern wollen, Jugendidole wie den Rai-Sänger Scheb Hasni und seit einer Woche auch Wahlhelfer – und nicht selten Vertreter der ihnen als zu gemäßigt geltenden FIS. Letzteres sorgt für hartnäckige Gerüchte, die GIA sei vom algerischen Geheimdienst durchsetzt. Und weil Islamisten mittlerweile Dörfer und ganze Landstriche in den Bergen beherrschen, werden diese von der Luftwaffe attackiert – auch mit Napalm.
Unter diesen Umständen sollen heute fast 14 Millionen Wahlberechtigte wieder einmal abstimmen: über ihren zukünftigen Präsidenten. Zur Auswahl stehen der Unternehmer Noureddine Boukrouh von der kleinen „Erneuerungspartei“, Scheich Mahfoud Nahna von der gemäßigt islamistischen „Hamas“, der Säkularist Said Saadi von der berberischen „Sammlungsbewegung für Kultur und Demokratie (RCD) und der derzeitige Präsident Liamine Zeroual. Der im Januar 1994 von den Militärs eingesetzte General gilt als einzig möglicher Sieger. Die wichtigsten Oppositionsparteien sind verboten oder boykottieren die Abstimmung, der Wahlkampf von Zerouals Kontrahenten wurde massiv eingeschränkt, und nur das Regime behauptet, daß es in den Wahllokalen mit rechten Dingen zugehen werde. BeobachterInnen spekulieren noch darüber, ob Zeroual seine nächste Amtsperiode mit realsozialistischen 98 Prozent und mehr antreten wird oder mit realistischer scheinenden 55 bis 85 Prozent oder ob gar eine Stichwahl stattfinden wird.
Die Wahl sei eine „plumpe Farce“, wettert der einstige Freiheitskämpfer Hocine Ait Ahmad von der berberischen „Front der sozialistischen Kräfte“ (FFS). Gemeinsam mit der trotzkistischen Vertreterin der kleinen „Partei der Arbeiter“ (PT), Louisa Hanoune, und dem FIS-Vertreter Ould Aada Abd al-Krim rief er am Dienstag in Bonn zum Wahlboykott auf. Die Abstimmung solle nur „die Fortsetzung des Kriegs kaschieren“. Im Januar hatten sich in Rom Vertreter der meisten wichtigen Oppositionsparteien auf einen „Nationalen Pakt“ geeinigt, darunter auch die FIS und die einst allein herrschende FLN. Einen friedlichen Dialog forderten sie mit dem Ziel freier Parlamentswahlen unter Beteiligung der FIS. Doch die Machthaber in Algier lehnten ab und setzten auf Präsidialwahlen unter von ihnen diktierten Bedingungen.
Trotz der mörderischen Verhältnisse in dem nordafrikanischen Land gibt es auch positive Stimmen zur Politik der algerischen Führung. „Das ökonomische Management Algeriens ist das beste, das das Land seit zwanzig Jahren gehabt hat“, erklärte der Vizepräsident der Weltbank, Caio Koch-Weser, Mitte Oktober; Algeriens Führung operiere in „extrem schwierigem politischem Umfeld“. Beobachter fürchten, daß wirtschaftliche Liberalisierung, verbunden mit harten Sparmaßnahmen und rigider politischer Unterdrückung, der algerischen Bevölkerung den Rest gibt.
Louisa Hanoune berichtet: „Letzte Woche haben sich in Algier zwei Arbeiter öffentlich erhängt – aus Verzweiflung, weil sie seit Monaten kein Gehalt mehr bekommen haben.“ Andere Möglichkeiten des Protestes hatten sie nicht.
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