2000 Anschläge - Die Gastkolumne
: Brauchen wir den "Giftschrank"?

■ Anmerkungen zu einer Reihe mit Filmen aus der NS-Zeit im Kino 46

Wozu soll das gut sein, diese Filme aus den Archiven zu holen, manche aus dem „Giftschrank“ der Archive? Beispiel „Jud Süß“: Zu Recht wohl angekündigt als einer der „übelsten Propagandafilme der Nazizeit“, nicht nur in allgemeinem Sinne, sondern buchstäblich und handgreiflich. Er wurde wieder und wieder auch den Truppen und den Mordbanden der Nazis vorgeführt, die zum Werkzeug des Mordes an den europäischen Juden wurden. In diesem Film wurde „der“ Jude als das vorgeführt, wozu die Nazis die Juden damals gerade machten: als der schmutzige, hungrige, mit allen Mitteln um das nackte Leben kämpfende, verzweifelte Ghetto-Jude. Ihn sah der deutsche Soldat in Warschau oder Litzmannstadt oder Minsk wirklich. Der Film macht den zweiten Schritt, diese Erscheinung in die ganze und ursprüngliche Wahrheit zu verwandeln.

„Jud Süß“ darf nicht öffentlich, frei zugänglich und zu kommerziellen Zwecken vorgeführt werden. Das ist so seit grauer, alliierter Vorzeit. Macht das heute noch Sinn? Ich finde, ja. Denn dieser Film erfüllt den Tatbestand der Volksverhetzung. Deshalb ist es richtig, wenn man im Dunkel des Kinosaals und seiner bewegten Bilder das Licht hinzufügt für gemeinsame Überlegung und Erörterung. Im altehrwürdigen Kino ist das ja immerhin ein wenig möglich, wahrscheinlich stärker als beim Fernsehen.

Nicht richtig finde ich allerdings die hektischen Verbotsdebatten, die einige Übereifrige in den letzten Jahren angezettelt haben. Denn ich bin mir sicher, daß durch die Verbotsdebatten viel mehr von den zu verbietenden Inhalte verbreitet wird als dieses der Fall ist, wenn man solche Filme oder Bücher dem frischen Wind öffentlicher Kritik aussetzt. Der Gewinn von Verboten ist fraglich, der Schaden für die allgemeine Meinungsfreiheit dagegen offensichtlich. Aber es gibt natürlich auch Grenzen, und „Jud Süß“ liegt jenseits dieser Grenzen.

Aber es geht in Filmreihen wie der im Kino 46 nicht nur um „Jud Süß“. Ist das nicht frivol, im Anschluß daran den „Bettelstudenten“ zu zeigen, dem das Etikett „Nazi-Film“ nun wirklich nicht offen auf der Filmrolle klebt? Ich glaube, daß es aus zwei Gründen wichtig ist, auch solche Filme zu zeigen.

Erstens, um sich zu verdeutlichen, welchen Grad an „Normalität“ eine Diktatur auch haben kann, mit welchem Grad an Normalität sie sich verträgt. Diese Filme gehören auch zur Jugend und zu den Erinnerungen der Menschen, die später in den verbrecherischen Krieg der Nazis hineingezogen wurden. Zweitens, um nicht dem Irrglauben zu verfallen, daß im Bösen keine guten Filme entstehen könnten. Moral und Ästhetik sind bei weitem nicht identisch, fürchte ich. Hermann Kuhn