Lieber in Deutschland hungern

Vierzig kurdische Flüchtlinge sollen aus Niedersachsen in ihre zerstörten Dörfer abgeschoben werden. Seit zwölf Tagen protestieren sie dagegen mit einem Hungerstreik  ■ Aus Hannover Jürgen Voges

Die dunkelhaarigen Männer mit den Schnauzbärten und die Frauen mit den hellen Kopftüchern sitzen auf einem zehn Meter langen Lager aus Matratzen und Kissen. Auf den Tischen stehen Mineralwasserflaschen. Die Männer haben sich hellgraue, selbstbeschriftete T-Shirts überzogen: „Unsere Schuld ist, Kurde zu sein“, heißt es darauf, oder: „Befreiung der kurdischen Abgeordneten“.

Die vierzig KurdInnen im Stadtteilzentrum „Faust“ in Hannover- Linden sind seit zwölf Tagen im Hungerstreik, fünfzehn von ihnen wollen unbefristet jede Nahrungsaufnahme verweigern. Sie stammen aus zwei Familien, kommen aus zwei kurdischen Dörfern im Osten der Türkei. Dorthin sollen nun sechzehn Frauen, Kinder und Männer aus den Familien abgeschoben werden. Doch diese Dörfer gibt es nicht mehr – sie sind zerstört worden.

Was den Familien Basak und Nayir widerfahren ist, nennt der Sprecher des Niedersächsischen Flüchtlingsrates, Georg Hartwig, ein „leider allzu häufiges Verfolgungsschicksal“ und ein „für die Bundesrepublik ganz normales erbärmlich-schäbiges Asylverfahren“. Vor sieben Jahren flohen vier Erwachsene und acht Kinder der Familie Basak aus ihrem Dorf Kayaballi in die Bundesrepublik. Ihnen droht jetzt nach dem Auslaufen des Abschiebestopps für KurdInnen der gewaltsame Rücktransport.

Sie waren zwischen die Fronten des Guerillakrieges geraten: Die Männer weigerten sich, dem türkischen Militär weiter in einer bewaffneten Hilfstruppe als „Dorfschützer“ zu dienen, wurden mißhandelt. Nach türkischen Presseberichten wurde ihr Dorf im Mai dieses Jahres von Soldaten niedergebrannt, drei der verbliebenen Bewohner waren zuvor ermordet worden.

Ein Onkel der Hungerstreikenden, der nicht in die Bundesrepublik, sondern in die Westtürkei geflohen war, ist vor zwei Wochen vom Staatssicherheitsgericht Izmir zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden – nach der Folter. Er hatte wegen der Zerstörung seines Heimatdorfes gegen den türkischen Staat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geklagt.

Sein Sohn sitzt jetzt unter den Hungerstreikenden. Nach der Verhaftung seines Vaters hat er sein Geschäft in Izmir aufgeben müssen. Erst kürzlich ist er in die Bundesrepublik geflohen, auch wegen des Mobs, der prügelnd und schreiend durch die Kurdenviertel der westtürkischen Stadt gezogen sei.

„Die angeblich für Kurden sichere Westtürkei gibt es nicht“, so sagt der circa vierzigjährige Hashim Basak. Er hat für seine Familie vergeblich einen Asylfolgeantrag gestellt und klagt nun mit wenig Aussicht auf Erfolg vor dem Verwaltungsgericht Hannover gegen die drohende Abschiebung. „Die Situation für die Kurden ist im türkischen Staat überall gleich: Wer sich nicht als Kurde bezeichnet, bleibt im Westen wie im Osten erst mal unbehelligt. Wer sich aber als Kurde politisch betätigt, wird im Westen wie im Osten verfolgt.“

Sowohl die Familie Basak als auch Familie Nayir haben Verwandte in der Bundesrepublik, die durchaus als Flüchtlinge anerkannt wurden. Das Verwaltungsgericht Ansbach beispielsweise stellte fest, daß sechs Angehörige der Familie Nayir 1993 in ihrem kurdischen Heimatdorf von den türkischen Sicherheitskräften ermordet worden sind. Das bayerische Gericht gewährte daraufhin Abukalkadir Nayir Asyl. Sein Bruder Mehmet soll dennoch aus Niedersachsen abgeschoben werden.

Die Hungerstreikenden im Stadtteilzentrum Faust verlangen, nach der Genfer Flüchtlingskonvention als politisch Verfolgte anerkannt zu werden. Ansonsten wollen sie „lieber in der Bundesrepublik zugrunde gehen, als in einem türkischen Gefängnis zu verschwinden“. Das niedersächsische Innenministerium allerdings sieht „zur Zeit keine rechtlichen Möglichkeiten, um gegen die Abschiebung der 16 KurdInnen etwas zu tun“.

Eigentlich seien die beiden kurdischen Familien zwar lange genug in der Bundesrepublik, um als sogenannte Altfälle weiter geduldet zu werden. Im Prinzip würden Familien mit Kindern zur Zeit nicht in die Türkei abgeschoben, wenn sie mindestens fünf Jahre in der Bundesrepublik gelebt hätten. Und das treffe eigentlich auf beide Familien zu, lautet auf Nachfrage die Auskunft des Innenministeriums. Allerdings sei diese Art Duldung vorerst befristet, bis der Bundestag endgültig über einen Gesetzentwurf „für eine Altfallregelung für Flüchtlinge“ entschieden habe. Aber auch nach den Vorstellungen der SPD fallen unter diese Altfallregelung nur Familien, die gänzlich selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen.

Bei den Basaks und den Nayirs haben aber nur die erwachsenen Söhne Arbeit gefunden. Und auch die sollen nicht in der Bundesrepublik bleiben dürfen: Nur bei Familien mit minderjährigen Kindern reichen fünf Jahre Aufenthalt in der Bundesrepublik aus, um als Altfall zu gelten. Die Söhne, die hier zur Schule gegangen sind und inzwischen hier arbeiten, müßten acht Jahre Aufenthalt nachweisen, um dann als „alleinstehende Altfälle“ geduldet zu werden.

Der niedersächsische Innenminister könnte den beiden Familien aber durchaus anders helfen, meint der Niedersächsische Flüchtlingsrat: „durch einen weiteren Abschiebestopp etwa, weil die Fluchtalternative Westtürkei sich jetzt erneut als reine Propaganda erwiesen hat“, sagt Georg Hartwig und fügt hinzu: „Wenn es in Niedersachsen wirklich jene Einzelfallprüfung gäbe, die Innenminister Gerhard Glogowski im Juni beim Auslaufen des letzten Abschiebestopps versprochen hatte, dann müßten diese Familien wohl nicht den Rücktransport in die Türkei fürchten.“