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Die Zeit, die mir noch bleibt

Sabine Nitz-Spatz hat Krebs – und sie hat sich entschieden: Die ehemalige Gesundheitsstadträtin von Berlin-Tiergarten führt weiter ein Leben, aus dem politisches Engagement nicht wegzudenken ist  ■ Von Vera Gaserow

Karibik? Provence? Jedenfalls irgendein Ort, wo das Paradies in Reichweite scheint. Oder einfach so weiterleben, als ob nichts wäre? Noch etwas ungeheuer Gutes tun, um eine bleibende Spur zu hinterlassen? Gedankenspiele mit einer befremdlichen Faszination. Bereitwillig durchgesponnen, wenn ein Anlaß dazu zwang: Was würde man selber tun – wenn? Wenn die ärztliche Diagnose lautet: Krebs. Unheilbar. Nur noch wenige Jahre. Das Konto plündern? Den Globus umreisen? Dort bleiben, wo das Paradies am nächsten scheint? Jeden einzelnen Tag maßlos genießen in dieser blödsinnigen Hoffnung, die Lebenzeit möge früher erschöpft sein als der Dispokredit?

Nicht Karibik, nicht Provence, aber auch nicht so, als ob nichts wäre – ein Hörsaal im Universitäts- Krankenhaus Berlin Moabit an einem Samstagnachmittag. Rund 150 Interessierte sind gekommen zum ersten Treffen der „Selbsthilfegruppe Cannabis in der Medizin“. Die meisten sind mit einem gehörigen Quantum Hoffnung angereist: Sie wollen sich informieren, und sie wollen kämpfen für Cannabis zur Schmerzlinderung und Erleichterung der eigenen Erkrankung. Unten, an dem Tisch im Halbrund der Bänke, leitet eine zierliche Frau die Versammlung – souverän, energisch, einladend freundlich. „Gut sieht sie aus“, tuschelt jemand auf den Zuhörerrängen, und in der Anerkennung echot ein „Aber“ mit. Ja, sie sieht gut aus. Ohne aber. Gesund, mit diesen lustigen Wangen, die rot werden, wenn sie aufgeregt ist. Und mit diesem Blick, der Wärme verteilt. Nur daß die Kopfhaut leicht durch die kurzen Haare schimmert; und an der Lehne ihres Stuhls baumelt ein Gehstock mit silbernem Knauf.

Den braucht sie seit ein paar Wochen. Seit der Tumor im Rücken bedrohlich und schmerzhaft auf die Nerven drückt. Eine Feststellung. Sabine Nitz-Spatz, die Frau auf dem Podium, macht sie ohne eine Spur von Selbstmitleid. Selbstmitleid würde nichts ändern, und was nicht zu ändern ist, dafür ist die Zeit zu schade.

„Zeit“. Über dieses Wort zu sprechen ist nicht einfach für Sabine Nitz-Spatz. Zeit war immer das, was fehlte in den vergangenen Jahren, in denen sich die 39jährige Berlinerin als grüne Gesundheitspolitikerin einen Namen machte. Vier Jahre saß sie für die Alternative Liste im Berliner Landesparlament, sechs Jahre lang, bis März 95, war sie grüne Gesundheitsstadträtin im Bezirk Tiergarten. Gearbeitet hat sie in diesen Jahren „um die 150 Prozent, aber weil es mir Spaß gemacht hat“. Die Zeit, von der so vertrackt wenig übrigblieb für ein Privatleben, wie sie es sich wünschte, hat jetzt eine andere Dimension bekommen. Zeit – das ist „die Zeit, die mir noch bleibt“.

Sabine Nitz-Spatz hat Knochenmarkkrebs. Der Tumor sitzt überall, vom Kopf bis zum kleinen Zeh, und greift die Knochenhaut an. Die Krankheit kann eingedämmt werden, wirklich geheilt werden kann sie nicht. Der Sommertag vor zwei Jahren mit der schrecklichen Diagnose flimmert noch heute vorüber wie ein schlechter Film. „Der Arzt druckste herum: Ich muß Ihnen eine unerfreuliche Mitteilung machen. Sie müssen jetzt ganz tapfer sein.“ Da stand sie wie neben sich und spürte hinter dem Schock auch ein merkwürdiges Gefühl von Erleichterung. Monatelang hatte sie sich mit undefinierbaren Knochenschmerzen gequält. Falsche Körperhaltung, Streß, Verspannungen diagnostizierten die konsultierten Mediziner, ein Psychiater attestierte schließlich „psycho- vegetatives Erschöpfungssyndrom“. „Die Diagnose hatte in dem Moment auch etwas Befreiendes. Ich wurde endlich ernst genommen, ich hatte es ja nicht mehr ,am Kopf‘. Wenn du weißt, was es ist, kanst du damit umgehen.“

Das sagt sich heute leichter als vor zwei Jahren. Damals hat Sabine Nitz-Spatz sich drei Monate lang zurückgezogen, um ihr Leben „neu zu ordnen“. Danach hat sie sich entschieden. Für die Rückkehr in ein gesellschaftliches Leben und für das, was wie ein geheimes Genpartikelchen an ihrer Person zu haften scheint: für ein soziales Engagement. Gegen den Rat ihres damaligen Arztes, eines Anthroposophen, der ihr verordnete, sich fortan nur noch um sich selber kümmern, kehrte sie zurück in ihr Stadtratsamt. „Wenn ich mich ins Privatleben zurückgezogen hätte, hätte ich mich nur noch auf die Krankheit bezogen. Da wär's mir unter Garantie schlechter gegangen. Ich wollte auch herausfinden: Kann ich das noch?“ Sie wollte noch etwas anderes beweisen: „daß man auch mit dieser Krankheit aktiv bleiben kann. Die Diagnose Krebs ist in unserer Gesellschaft immer mit Rückzug verbunden, und das trägt nur zur Ausgrenzung der Kranken bei.“

Eine echte Nitz-Spatz-Gedankenkette: persönliche Interessen und politisches Engagement als stimmiger Zweiklang – ohne unangenehme Härte. Ein Zusammenspiel, das zur Identität geworden ist und das aus der zierlichen Person ein Mobile macht, das sich ständig selbst in Bewegung hält. Mit 12 Jahren verschlingt Sabine Nitz-Spatz die Tagebücher von Che Guevara, „damals noch als romantisches Abenteuerstück“. Mit 18 werden die Semesterjobs als Nachtschwester auf einer Station mit chronisch Kranken zum traumatischen Erlebnis: „Daß Menschen nach einem arbeits- und erfahrungsreichen Leben ohne jegliche Zuwendung zum Sterben ins Badezimmer abgeschoben werden, wo sich bestenfalls noch die türkische Putzfrau um sie kümmert“ – diese Erfahrung hat sie stärker geprägt als manch linker Traum von der Weltrevolution. Ende der 70ger Jahre geht sie als Ethnologin nach Peru, um im Amazonasgebiet die Einflüsse der kolonialistischen Elemente auf die Indio-Kultur zu erforschen.

Seit 1985 macht Sabine Nitz- Spatz fast ausschließlich Politik, erst im Berliner Abgeordnetenhaus, dann als Stadträtin. Sie baut die Gesundheitsbrigaden für Nicaragua mit auf, sie organisiert Gesundheitskonferenzen, skandalisiert das Problem der Kinder im Straßenverkehr, setzt sich für Minderheiten ein, „weil sich daran unsere Demokratie messen lassen muß“. Als Stadträtin Nitz-Spatz 1991 in ihrem Bezirk die ersten Spritzenautomaten für Junkies aufstellen läßt, hagelt es Abwahlanträge und wütende Schlagzeilen: „Weiß diese Frau, was sie da sagt?“ empört sich die Springer-Presse und serviert die Antwort selbstverständlich dazu: „Offenbar nicht!“

Vier Jahre später, im März 95, ist die Bild-Zeitung überraschend milde gestimmt „Tiergartens schöne Stadträtin: Ich kämpfe mit dem Tod“ titelt das Blatt, „eine tapfere Frau“, „beliebt, geachtet, als Fach-Frau geschätzt“. Doch, diese Anerkennung hat ihr damals gutgetan, auch wenn sie reichlich nach Nachruf klang: Sabine Nitz- Spatz hatte gerade ihr Amt als Gesundheitsstadträtin aufgeben müssen. Dank monatelanger Chemotherapie war sie ein Dreivierteljahr gänzlich ohne Beschwerden, doch im Frühsommer ist der Tumor im Rücken wieder gewachsen. Die ständigen Schmerzen, die das Gehen jetzt so beschwerlich machen, ließen keinen Weg an der einschneidendsten Erkenntnis vorbei – „der Erkenntnis, daß mein Leben zeitlich sehr begrenzt ist. Aber das bedeutet ja nicht, daß ich sterbend bin. Mein eigenes Sterben ist mir immer noch sehr abstrakt.“ „Sterben“, das Wort sagt Sabine Nitz- Spatz so ruhig und freundlich, wie sie fast alles sagt – nur die Hände im Schoß sind unablässig in Bewegung, und die Finger kneten. Einen Moment nur dauert die Irritation, dann hat sie zum Wort zurückgefunden, das viel besser zu ihr paßt: Leben. „Das ist doch das Wichtige und Spannende an so einer Erkrankung: das Leben aktiv in die Hand zu nehmen.“

Sabine Nitz-Spatz packt dieses Leben an, als ob sie sich ihren eigenen Wahlspruch noch einmal beweisen wollte. Und sie genießt es, daß der Beweis gelingt. Trotz Schmerzen, trotz Chemotherapie, trotz zusätzlicher Bestrahlung – sie ist ständig in Bewegung. Sie „rackert“ wie jemand, der nicht nach-, sondern vorarbeiten muß: „Ich weiß ja nicht, wie lange ich es physisch noch kann.“ Die Behandlung zehrt, die Schmerzmittel machen müde, aber die Arbeit mobilisiert offenbar neue Kraft. Nicht mehr zehn, zwölf Stunden wie einst als Stadträtin ist Sabine Nitz-Spatz jetzt unterwegs, aber ein Achtstundentag kommt fast immer dabei heraus.

Bei den letzten Berliner Wahlen hat sie fürs Bezirksparlament kandidiert. Dort wird sie als Abgeordnete demnächst ihre Arbeit aufnehmen. Zusammen mit anderen schwerkranken Patienten hat sie gerade die Selbsthilfegruppe „Cannabis in der Medizin“ angeschoben, und seit ein einigen Monaten arbeitet sie als Halbtagskraft bei „Home Care“, einem gemeinnützigen Verein. Dort koordiniert sie die ambulante medizinische Hilfe für schwerkranke Tumorpatienten. Sie begleitet die Ärzte bei ihren Besuchen auf den Krebsstationen der Krankenhäuser, sie besucht diejenigen, denen „Home Care“ ermöglicht, zu Hause sterben zu können.

Wenn schon nicht Karibik oder Provence – warum, um Himmels willen, nicht irgend etwas Tröstliches, Heiteres, Schönes? Warum muß sie sich ausgerechnet diese Arbeit zumuten, die sie ständig mit Krankheit und Sterben konfrontiert? Die Antwort kommt prompt: Weil sie die Erinnerung an die zum Sterben abgeschobenen Alten und Schwerkranken nicht verdrängen kann und will. „Die Betreuung dieser Menschen, das ist einfach ein ungeheures Defizit in unserer Gesellschaft.“ Aber warum muß ausgerechnet sie dieses Defizit füllen? „Weil ich durch meine eigene Betroffenheit für die Menschen sehr glaubwürdig bin und weil auch ich mir wünsche, einmal selbst bestimmen zu können, wie ich sterbe.“ Ja, doch, es ist eine Gratwanderung, die sie da mit sich macht. „Anfangs wußte ich nicht, ob ich das wirklich aushalte. Aber jetzt merke ich, wieviel Positives ich dafür zurückbekomme, und das mobilisiert auch Kraft.“

Nein, wirklich, sie möchte nicht den Eindruck erwecken, als sei das alles leicht. Gerade in den letzten Wochen ist sie recht labil zwischen „Hoffnung und Depression“ hin und her geschrammt. Die Schmerzen zehren, und der Schock, daß die gerade begonnene Strahlentherapie sie mit 39 Jahren abrupt in die Wechseljahre bringen könnte, hat sie verletzlicher gemacht. „Und so stark, wie ich in meinen Aktivitäten bin, so bin ich halt auch in meinen Depressionen.“ Stimmungen, von denen sie weiß, daß sie auch ihren Mann Johannes Spatz oft überfordern. „Er fängt mich auf. Aber da kommt er schon an seine Grenzen, denn er trägt eindeutig die größte Last“ – trotz des großen Freundes- und Bekanntenkreises.

Einige Bekannte haben sich verunsichert zurückgezogen. Zu anderen ist die Beziehung viel enger geworden – so wie unter der Endlichkeit der Zeit vieles intensiver wird: „Ich genieße mehr, ich tue mir selbst ganz bewußt etwas Gutes, ich versuche, aus mir rauszuholen, was rauszuholen ist.“ Und sie lernt, was ihr bisher schwerfiel, öfter nein zu sagen. „Ich versuche, anderen mehr zu geben, aber auch mehr zu nehmen“. Neulich hat eine Freundin ihr gesagt, was sie selbst auch empfindet: „Du nimmst dich nicht mehr so zurück. Du bist mehr du selbst geworden.“ Vielleicht ist es das: nicht Karibik, nicht Provence – Ankommen.

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