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Polens Patriarch ist abgewählt

■ Arbeiterführer und Solidarność-Gründer Lech Walesa muß den Präsidentensessel für einen Exkommunisten räumen. Der Wahlgewinner Aleksander Kwaśniewski nennt das Ergebnis einen Sieg für die Demokratie in Polen

Warschau (dpa/AFP/rtr) – Der legendäre Arbeiterführer und Gründer der Gewerkschaft Solidarność, Lech Walesa, ist abgewählt. Bei der Stichwahl um die Präsidentschaft am Sonntag stimmten laut dem gestern veröffentlichten vorläufigen Endergebnis 51,72 Prozent der Wähler für den Sozialdemokraten und früheren Kommunisten Aleksander Kwaśniewski. Walesa kam auf 48,28 Prozent. Die Wahlbeteiligung war mit 68,23 Prozent die höchste seit dem Machtwechsel.

„In Polen hat die Demokratie gesiegt“, sagte Aleksander Kwaśniewski nach Bekanntwerden der Ergebnisse dem französischen Fernsehsender FR3. Die polnische Gesellschaft habe Reife bewiesen. Noch in der Wahlnacht hatte er an Walesa appelliert, gemeinsam für ein einiges Polen einzutreten. Der noch amtierende Staatspräsident Walesa wollte gestern zunächst keine Stellungnahme abgeben. Sein Sprecher Marek Karpinski erklärte, der Präsident sei von dem Ergebnis „nicht begeistert. Warum sollte er auch? Aber offenkundig brauchen wir alle und Polen solch ein Lektion.“

Als eine Demütigung für einen großen Teil der polnischen Gesellschaft, die in ihrer Mehrheit einen antikommunistischen Standpunkt vertrete, bezeichnete der frühere Oppositionelle und Ex-Ministerpräsident Jan Olszewski die Wahl. „Es überwog der Widerwille gegen die Rhetorik der Solidarność und die klerikale Aggressivität“, erklärte der bekannte Journalist Adam Michnik das Ergebnis. Der Chef der Gewerkschaft Solidarność, Marian Krzaklewski, bezeichnete den Sieg Kwaśniewskis als eine Niederlage. Er drohte mit einer radikalen Opposition „im Rahmen der Gesetze“. Der Generalsekretär der katholischen Bischofskonferenz, Tadeusz Pieronek, bedauerte, daß sich die polnische Gesellschaft so gespalten habe. Die Kirche müsse den Dialog auch mit einem exkommunistischen Präsidenten suchen.

Moskau hofft nach dem Sieg von Kwaśniewski auf bessere Beziehungen zwischen Rußland und Polen. „Die Beziehungen entwickeln sich nicht schlecht, aber vielleicht nicht so, wie wir es gern wollen“, sagte der russische Regierungschef Wiktor Tschernomyrdin gestern. Er hoffe, daß die zwischenstaatlichen Programme beider Länder auch unter dem neuen Präsidenten fortgesetzt werden. Unterdessen haben Innenminister Andrej Milczanowski und Verteidigungsminister Zbigniew Okonski ihren Rücktritt angekündigt. Er wolle seinen Überzeugungen treu bleiben, sagte Milczanowski. Beobachter erwarten ein ähnliches Vorgehen von Außenminister Wladyslaw Bartoszewski, der ebenfalls von Walesa berufen worden war und nicht den linken Regierungsparteien angehört. Tagesthema Seite 3, Kommentar Seite 10

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