piwik no script img

Die Kraft des Spinners Von Christiane Grefe

„Krieg den Alten!“ –

Eine Schlagzeile der

„Woche“

Nach dem Konzert gehen die Musiker immer einen trinken. Im Pulk, meist zum Griechen. Der Klarinettist kommt als letzter. Er muß erst noch seine Mutter aus dem Konzertsaal holen. Und das dauert. Einundneunzig ist sie und schon winzig geworden. Sie sieht kaum noch, Bernd muß sie vorsichtig durch die verqualmten Tischreihen schieben. Dann sitzt sie bis weit nach Mitternacht dabei, mitten in den Gesprächen der Jungen über das verunglückte Fortissimo im zweiten Satz. Meist hört sie aufmerksam zu. Dann wieder sieht ihr ledern-faltiges Gesicht aus, als wäre sie längst irgendwo anders.

Die Kollegen mustern den zerbrechlichen Fremdkörper mit einer Mischung aus Rührung, Befremden und Unsicherheit. Kaum einer spricht mit der alten Frau. Und daß Bernd sie mit hierher nimmt, finden sie ziemlich skurril. Als wenn man so etwas nicht täte.

Für richtig wunderlich aber halten sie ihn dafür, daß er die Alte, die sich allein nicht mehr versorgen kann, seit etwa zwei Jahren auch noch Tag für Tag pflegt. Vor den Proben macht er ihr Tee. Hilft beim Anziehen, sorgt dafür, daß sie die Medikamente rechtzeitig nimmt. Badet sie, schneidet die Nägel, wäscht ihr Haar. Liest ihr, die in den gut durchbluteten Momenten politisch hellwach ist, aus den Zeitungen vor. Achtet darauf, daß sie nicht mit Kleidern ins Bett geht. Und bricht, oft in erbitterten Kämpfen, ihren Widerstand, wenn sie sich, eine Frau der Kriegsgeneration, nicht helfen lassen will.

Freunde und Kollegen witzeln verstohlen: Ein Mann in dem Alter und so nah bei der Mutter – da muß irgend etwas furchtbar schiefgegangen sein. Schließlich haben sie Freud for Beginners gleich nach der Mengenlehre gelernt. Wie wir alle, wie auch Bernd.

Der macht derweil etwas zu essen. Fast jeden Tag nach der Arbeit und nicht, wie die Kollegen, ab und zu mal als Hobby. „Immerhin habe ich so überhaupt kochen gelernt“, sagt er, und: „C-Dur-Tonleitern üben ist auch lästig.“ Aber hat er nicht, zum Beispiel als Vater zweier Töchter oder als aktives SPD-Mitglied, noch eine Menge andere Sachen zu tun? „Alles ist gleich wichtig“, sagt Bernd; man muß wissen, daß er große Worte nicht scheut, mit buddhistischer Wucht. Und die Langsamkeit, geht ihm die nicht auf die Nerven, das Alltagsgezerre? Die endlos-zähen Augenblicke, bis so eine alte Frau nach tausend Neins endlich etwas zu sich nimmt oder gerichtet ist für den Arztbesuch? Schon, sagen Bernds Augen. Aber seine Stimme: „Gegen das rasende Tempo muß man ohnehin Widerstand leisten, ein Musiker weiß das.“

„Verrückte Sätze, verrückt wie er selbst. Und doch hatte er recht“, schrieb Alberto Manzi in seinem Roman über „El Loco“, den „Spinner“, der ein ganzes unterdrücktes Dorf aus der Bewußtlosigkeit weckt und verdrängte Probleme, aber auch Kräfte an die Oberfläche holt – einzig durch sein stoisches Anderssein. Als er auftaucht, witzeln noch alle über El Loco, mit Sympathie, aber entschlossen distanziert. Ist auch Bernd so eine Zumutung, ein Agent provocateur? Mit Verdrängung jedenfalls ist er wie „Der Spinner“ reichlich konfrontiert. „Wie ich das mit meiner Mutter eigentlich mache“, sagt er, „das hat mich von meinen Kollegen, selbst von meinen Freunden noch überhaupt nie einer gefragt.“

Wer will sich schon freiwillig mit der verdammten Hilflosigkeit des Alters konfrontieren! So sorgfältig getrennt sind doch die Lebenssphären der Generationen, daß das nur tut, wer unbedingt muß. Und vor der derzeit modischen Altenschelte wirkt einer wie Bernd endgültig verrückt: Da watscht der Stern schon jeden über 45 nur noch als „Schmarotzer“ und „Last“ ab – als hätte überhaupt niemand je Renten oder Steuern bezahlt. In der Woche rollen gleich „Senioren- Lawinen“, die „die Zukunft der Jugend zerstören“ – als wären die Jungen wegen der Alten und nicht jung und alt gleich arbeitslos. Claus Leggewie, der unvermeidliche Schnellschuß-Experte, sieht in eher katastrophischem als analytischem Starksprech schon den neuesten „weltweiten“ (?!) Verteilungskonflikt zwischen Alt und Jung, nicht mehr zwischen Arm und Reich.

Belasten, entlasten, entsorgen: Ungelöste Verteilungskämpfe erfordern scheinbar mal wieder den Haudrauf. Irgend jemand nimmt „uns“ immer das Geld weg. Wehe den vergnügungssüchtigen Greisen. Und wehe denen, die erbärmlich dran sind, erst recht. Schon wird auch die Pflegeversicherung als übler Lobbyerfolg der tattrigen Übermacht auf Kosten der Familienpolitik enttarnt – als ob das ein Gegensatz wäre. Hat eigentlich irgendwer gemerkt, daß für deren Finanzierung heute der Buß- und Bettag entfällt? Dabei ist ein Zuschuß nach „Pflegestufe I“ das mindeste für Leute wie Bernd.

Der zu dieser holzschnittartigen gesellschaftlichen Angst-NeidMischung völlig quer steht. Doch seine, die einzelne Geschichte schärft den Blick für die viel komplexere Wirklichkeit. Sie besteht etwa darin, daß es ziemlich oft die Alten selbst sind, die die „Last“ betreuen: Auch Bernd hat die Sechzig bald überschritten. Vor allem aber ist sich um hilfebedürftige Angehörige kümmern nach wie vor nichts für Männer, wie alle „regenerativen Tätigkeiten“: Die Intimitätsschwelle, den schmerzlichen, auch peinlichen geistigen wie körperlichen Verfall der hohen Jahre zu ertragen, überschreiten zu über vier Fünfteln nur Frauen. Und sie pflegen, entgegen allen Medien-Klischees, die Alten zu mehr als zwei Dritteln zu Haus.

Bei Frauen aber würde niemand auf die Idee kommen, es könne nur eine tiefenpsychische Macke dahinter stehen, weil sie ihren Ehemann, alten Vater oder Schwiegervater waschen und wickeln. Nach wie vor sind sie zuständig, wenn es ums Füttern geht, ums Ausscheiden, Anfassen und Trösten. Dabei ist die häufige weibliche Neigung zur Über-Fürsorge vielleicht sogar eher pathologisch. Bernd jedenfalls setzt, wie beim Kneipenbesuch, sowohl das Recht seiner Mutter auf Öffentlichkeit durch als auch ihr gegenüber seine eigenen Interessen – und erweist der alten Frau dadurch nicht nur Mitleid, sondern auch Respekt: Was sie alleine noch kann, mutet er ihr zu. Auch, daß ihn andere dann und wann entlasten.

Die Mutter hat ihm schließlich zugemutet, seine Wahrnehmung zu ändern. Dabei schwindet seine Angst vor dem Alter, weil er den Prozeß miterlebt. Mit der ihm eigenen, nur scheinbar naiven Hartnäckigkeit lernt er, daß „man sich für keine Arbeit zu schade sein darf. Indem ich selbst alles tue, werde ich auch frei“ – wie gesagt, Bernd neigt zum Pathos.

Er zitiert, nachdem er am eigenen Leibe erfahren hat, wie wenig Interesse und Anerkennung findet, was seinen Alltag jetzt mehr als alles andere bestimmt, heute gern Ingeborg Bachmann: „Die Männer sind doch alle krank. Wußten Sie das nicht?“ Und nennt, was er leistet, vergleichbar der Eroberung des Kreissaals, nicht weniger als „eine private Revolution“. Brächten mehr Männer den Mut zu seiner Art von Nahkampf auf, dann wäre sie nicht mehr nur privat. Und das unerträglich-flotte Alten-Bashing fiele wenigstens schwer.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen