: Erziehungsheim, Akkordarbeit, Wondratschek
■ Im Kampf zwischen Staat und RAF entschied sich Gerd Conradt für die Kamera – Retro im Babylon
1968 stellt sich Ulrike Meinhof nach der Ausstrahlung ihres Dokumentarfilms über die Ermordung von Benno Ohnesorg einer Talkrunde im SFB. Die Diskussion verläuft sachlich, man hört den Argumenten von Meinhof zu. Im Jahr zuvor hatte Holger Meins auf einem Treffen junger Filmstudenten der neugegründeten DFFB davon gesprochen, daß Filmarbeit stärker in die Gesellschaft eingreifen müsse: „Man soll das Alte nicht korrigieren, sondern grundsätzlich neu anfangen.“ Die Revolution sei keine Sache der richtigen Kameraeinstellung.
Im Gegensatz zu anderen Kommilitonen ist Gerd Conradt auf seiner Seite. Auch er sieht eher, daß sich die alte in der neuen Ordnung durchsetzen wird, wenn die ästhetische nicht mit einer gesellschaftlichen Veränderung einhergeht.
Am 9. November 1974 starb Holger Meins nach einem zweimonatigen Hungerstreik im Gefängnis von Wittlich/Rheinland-Pfalz als Mitglied der RAF. Jahrelang hat sich Conradt mit der Frage beschäftigt, wie ein guter Freund aus dem Kulturbetrieb zum Staatsfeind Nummer eins werden konnte. Ein Kollege, der Filme über Obdachlose drehte, bevor er zum mutmaßlichen Polizistenmörder wurde.
Conradts Video-Dokumentation „Über Holger Meins, ein Versuch, unsere Sicht heute“ (1982) geht wieder und wieder den Lebensweg von Meins ab und bleibt am Ende eher ratlos. Mühsam sucht sich der Film sein Material zusammen, arrangiert WG-Szenen mit Fernsehbildern und zweifelt noch die eigene Darstellung an. In Zeitlupe wird die Verhaftung von Meins wiederholt, später merkt der Vater an, wie sehr es ihn schmerzt, daß sein Sohn durch diese Bilder zur Ikone stilisiert wurde.
Nach dem Tod von Holger Meins wurde der Kampf zwischen Staat und RAF bundesrepublikanischer Alltag. Er reichte bis in die gymnasialen Sympathisantengruppen kleinstädtischer Oberstufen. Gerd Conradt drehte derweil Dokumentarfilme über ein hessisches Erziehungsheim oder eine Akkordarbeiterin beim Osramkonzern und stellte das Video „Putte muß bleiben“ fertig – einen Bericht über den Abriß des Weddinger Jugendzentrums „Putte“, der auch auf der Berlinale gezeigt wurde.
Die Retrospektive im Babylon Mitte ist auch ein Beleg dafür, daß sich Conradt gegen den bewaffneten Kampf entschieden hat. Seit 1975 unterrichtet er im Bereich Video, produzierte Clips zu Goethes Osterspaziergang und Wondratschek-Gedichten sowie eine 50-Minuten-Dokumentation der Pressekonferenz mit Jean-Luc Godard beim Filmfest 1985.
Nebenbei beschäftigte er sich filmisch mit Bioenergetik und Rebirthing, machte für das Fernsehen Langzeitstudien über Familien in Thüringen und verfilmte zuletzt die Geschichte von Irene Moessinger und dem Tempodrom. „Er meditiert gerne, trägt mit Vorliebe Hemden aus indischer Seide und spielt auf seinem australischen Buschinstrument“, steht in seiner Biographie. Gleichzeitig arbeitet er mit Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten oder Wolf Biermann.
Das alles klingt wie eine klassische alternative Off-Karriere: Nach dreißig Jahren Filmarbeit mag sich Gerd Conradt noch immer nicht zwischen Chronik und Poesie entscheiden. Wenn er in „Der Videopionier“ (1984) zehn Jahre Stadtteilsanierung bilanziert, dann springt bei aller Dokumentaristenpflicht doch immer ein Conradt mit Schiebermütze und Knickerbockers durch den Film – eine Hommage an Dziga Vertov.
Dem „Kino-Auge“ der Sowjet- Revolution folgend, beginnt Conradt in den siebziger Jahren mit Filmen aus der Arbeitswelt und vom sozialen Rand. „Putte“ zeigt winzige Wohnlöcher, in denen die Menschen wie zu Zilles Zeiten hausen. Und doch geht es ihm nicht darum, Elend und Hilflosigkeit vor die Kamera zu holen und Opfer irgendwie zum Sprechen zu bringen. Keine Ethnologie, keine Betroffenheitsstudien am verloren geglaubten proletarischen Subjekt. Die Leute reden von selbst, nehmen patent das Mikro in die Hand und motzen über die Stadtplanung. Daß der Film nicht in zähem Sozial-Pathos versuppt, liegt vielleicht am berlinischen Naturell, immer und überall Schnauze zu zeigen. Andererseits ist Conradt ein geschickter Filmer. Wann immer jemand ins Jammern gerät, fährt er neugierig mit der Kamera die öden Fassaden ab, hält bei einer Abrißbirne inne oder schneidet ein Stadtteilfest im Sonnenschein dazwischen.
Soziale Einfühlung ist nicht ohne Hintergrundinformation zu haben. Daß sich beides ergänzt, ist eine Errungenschaft, auf der letztlich das Modell von Gegenöffentlichkeit beruht. Die Revolution hat im Kleinen stattgefunden. Harald Fricke
Retro von Filmen und Videos aus den Jahren 1965 bis 1995 von Gerd Conradt vom 23. bis 28.11. im Kino Babylon Mitte, Rosa-Luxemburg- Platz, Mitte
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