: Glückliche Stunden
Karmakars Film „Der Totmacher“ zeigt die Entwicklung einer Liebesgeschichte unter drei Männern ■ Von Katharina Rutschky
Bislang galt Romuald Karmakar als Dokumentarfilmer mit einem Spezialthema: Wo Männer noch Männer sind. Begegnen uns solche im zivilen Alltag bloß als Fußballer, Kampftrinker, Autofexe oder Herrscher am Gartengrill (Feuer!), zeigte Karmakar sie in Reinkultur als Krieger. Der Krieger ist vom Tod oder, was auf dasselbe hinausläuft, von der Todesangst besessen. Während seiner eigenen Armeezeit in Frankreich drehte er den Kurzfilm „Coup de Boule“ über den Rekrutensport, eine Spindtür mit dem eigenen Schädel einzuschlagen. Es folgten Filme über Hahnenkämpfe und Kampfhunde und schließlich das große Projekt über die Internationale der Söldner: „Warheads“. Dessen scheinbar dokumentaristische Objektivität hat manchem damals politisches Bauchgrimmen gemacht. Ein Mißverständnis, wie nun Karmakars erster Spielfilm zeigt, in dem man denselben objektivierenden Gestus benutzt findet. Auch das Thema ist dasselbe geblieben: Männer. Jetzt allerdings geht es nicht um Männer, deren Leben auf den Tod fixiert bleibt, sondern um solche, die den rührenden Versuch unternehmen, ohne fremde (weibliche) Hilfe und ganz aus eigener Kraft dem Leben ohne Tod Sinn und Bedeutung zu geben.
Sicher geht der „Totmacher“ auf die vielstündige psychiatrische Begutachtung eines serial killers aus den zwanziger Jahren zurück; sicher wurde Haarmann auch geköpft, weil ihm Prof. Dr. Ernst Schultze die volle Zurechnungsfähigkeit attestiert hatte; natürlich handelt es sich um einen historischen Fall mit vielfältigen politischen Bezügen – eigentlich aufregend ist der Film aber durch die Entwicklung einer, wenn nicht Liebes-, dann doch Beziehungsgeschichte unter Männern.
An die Stelle des Geschlechtergegensatzes treten andere Extreme: Hier der mächtige Psychiater, auf dessen Seite auch noch Recht und Moral stehen; dort der überführte Mörder, ein Monster in Menschengestalt, das einen – bestenfalls – sprachlos macht und aus der Fassung bringt, wenn man auch nur den Versuch wagt, sich seine Untaten vorzustellen. Zwischen ihnen ein junger Mann, der die Gespräche protokolliert und sonst völlig stumm bleibt. Er verkörpert die Unschuld, der Schreiber als unbeschriebenes Blatt, großäugig und mit defensiver Körpergestik. Erst im Verlaufe der Begebenheiten erwacht unter dem gierig-zärtlichen Blick Haarmanns sein Selbstbewußtsein, und er verliert die kreatürliche Furcht vom Anfang.
Pierre Franckh als Stenograph und Jürgen Hentsch als der wilhelminische Psychiater agieren minimalistisch, kleine Gesten, winzige Details rücken ihre Turbulenzen vor den Zuschauer, der, je länger der Film dauert, desto gespannter das Bild nach Zeichen der Bewegung abtastet. Man kennt das scheinbar unfilmische Verfahren der Reduktion auf einen Raum, wenige Personen und die Rede als Motor, seit Louis Malle es in „Mein Essen mit André“ mit verblüffendem Erfolg angewandt hat.
Natürlich interessiert sich Karmakar nicht die Spur für jene urbane Kultur, in der Männer Kollegen, Kumpel oder Freunde sind (wie bei Malle), sonst wäre er wohl nicht an Haarmann hängengeblieben, der wie jeder serial killer, von dem wir wissen, bei allem Grauen das er auslöst, auch als ein Inbild menschlich-männlicher Leere, Beziehungslosigkeit und hoffnungslosester Einsamkeit beeindruckt. Der volkstümliche Ausdruck „Lustmörder“ ist bei diesen Männern, die ihre eigenen Gefangenen sind, ein romantischer Euphemismus, der Spießern und ihren Kritikern (Otto Dix und George Grosz) gerade recht kommt. Aber auch die strafrechtlichen Extras bei ihrer Verurteilung – Mord aus niedrigen Motiven, zur Befriedigung der Geschlechtslust – treffen pfeilgrad daneben. Fast noch hoffnungsloser jene Integrationsversuche, die auf Unzurechnungsfähigkeit und Kasernierung in der Psychiatrie hinauslaufen.
Im Fall Haarmann und Karmakars Film vorauszusehen ist hierzulande dann noch das Versehen, das ihn auf Hitler, Himmler und Heydrich reimt, als ob kein Filmkritiker je etwas von Jeffrey Dahmer, Frederick West oder Jürgen Bartsch gehört hätte. „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“, tönt Peter W. Jansen satt, und kann es sich auch nicht verkneifen, auf die Naziaffiliationen von Heinrich George hinzuweisen, bloß weil sein Sohn Götz bei Karmakar den Haarmann spielt, außerdem in Interviews bereitwillig seinen Vaterkomplex ausbreitet und damit das Licht, das ihm kulturlose Zeiten (Fernsehen, Schimanski) zu verbreiten erlauben, in völliger Verkennung der Tatsachen unter den Scheffel stellt.
Leicht allerdings hätte Karmakars „Totmacher“ an Götz Georges bekanntem Gesicht, seinen unwiderstehlichen blauen Augen und der animalischen, gleichwohl ehrgeizigen Virtuosität gründlich scheitern können. Am Anfang sinkt man immer tiefer und besorgter in den Kinosessel und befürchtet das Schlimmste. Götz George alias Haarmann macht den Irren, Hentsch als Professor und Gutachter fängt an zu testen: Wo leben wir? An welchem Fluß liegt Hannover? Wer regiert Deutschland? Glauben Sie an Gott, was wird ihre Mutter im Himmel dazu sagen? Dann merkt man erleichtert, so geht es nicht weiter, das sind bloß die unvermeidlichen Eröffnungszüge für etwas ganz anderes. Drei Männer sind hier, in einem Zimmer der Göttinger Irrenanstalt zusammengesperrt, und zwei davon müssen irgendwie ins Gespräch kommen. Wie hätte sich Professor Schultze aus der Affäre gezogen, wenn Haarmann, dessen Zurechnungsfähigkeit er erforschen sollte, schlicht stumm geblieben wäre? Zur Ehrenrettung der Weimarer Republik um 1925 und ihrer Gerichte muß man sagen, daß sie sich der Zumutungen, die ein serial killer ja bis heute einer aufgeklärten Gesellschaft und dem Rechtsstaat auferlegt, gewachsen zeigte. Haarmann hatte in Ernst Erich Frey einen prominenten und qualifizierten Verteidiger; in Ernst Schultze einen hochkarätigen Experten für psychotische Straftäter, einen Pionier jener Sachverständigenkultur, die im Kampf gegen die immer virulente Volksmeinung Strafverfahren dieser Art bis an die Grenze des Menschenmöglichen humanisiert.
Ich bezweifle, daß Haarmann je in seinem Leben so glückliche Stunden durchlebt hat wie in dem Zimmer der Göttinger Irrenanstalt, in der immer intimeren Interaktion mit dem alten und dem jungen Mann. Damit es dazu kommt, daß Haarmann den steifen Psychiater einmal kindlich dankbar umarmen darf, dieser ihm, in Anerkennung seiner irrlichternd herausgespielten Offenbarungsleistung eine teure Zigarre schenkt, dafür müssen alle Federn lassen. Es ist ein großer Vorzug von Karmakars dokumentaristischem Gestus, daß dennoch die Distanz zwischen den Beteiligten im Film und zwischen dem Zuschauer und dem Prozeß, dem er beiwohnt, erhalten wird. Die schwarze Wolke der ungeheuerlichen Taten, Haarmanns Verdammnis im Leben und schließlich zum Tod, sie werden in dieser Intimität nicht aufgehoben, sondern bleiben jede Sekunde präsent. Hier wird kein Täter unter der Hand zum Opfer, dessen Opfer – Haarmanns notorische „Puppenjungs“ – unser Mitgefühl ebenfalls fordern und so ad infinitum. In diese Falle ist Karmakar zum Glück nicht getappt und seinem Thema treu geblieben: Männlichkeit konstituiert sich im Vorlauf auf den Tod. Das gilt für den Extremfall des serial killers, aber auch für den Staat, der die Todesstrafe ausspricht. Haarmann will sterben und nicht für unzurechnungsfähig erklärt werden. Der Gutachter findet Gründe. Liebes- und Lebenssehnsucht stecken im Zimmer, wo die Panzer abgelegt werden können, weil das Schlimmste schon geschehen ist.
Während des Abspanns hört man Götz George alias Haarmann hyperventilieren. Ein doppeldeutiges Schnaufen: Ist es die Todesangst des Verurteilten oder die Lebensgier? Bei allem Respekt vor den Leistungen der Schauspieler, der „Totmacher“ gehört zur Spezies des Autorenfilms, und deshalb kann man die Antwort auf diese Frage von Karmakars nächstem Film erwarten.
„Der Totmacher“ von Romuald Karmakar. Kamera: Fred Schuler. Mit Götz George, Jürgen Hentsch, Pierre Franckh, D 1995, 114 Min.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen