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RollstuhlfahrerInnen: Vom Programm ausgeschlossen

■ betr.: „Wenn Rollstuhlfahrer Bahn fahren“, taz vom 14. 11. 95

Die taz beschreibt die Misere recht anschaulich. Und trotzdem ging es der behinderten Frau noch einigermaßen gut, denn immerhin konnte sie (mit Hilfe von Auto und Taxi, einer offenbar sehr strapazierfähigen Blase und einer nicht weniger strapazierfähigen Freundin) eine abenteuerliche Odyssee erleben und abends „völlig fertig“ ins Bett fallen. Mit einem Elektro- Rollstuhl, mit dem man weder getragen noch im Taxi mitgenommen werden kann, einer nicht ganz so zuverlässigen Blase und ohne Freundin hätte sie Berlin und seine Gastfreundschaft (bekanntlich haben nur rund 0,2 Prozent aller Berliner Kneipen eine berollbare Toilette) noch ganz anders erleben können.

„Etikettenschwindel“ sind nicht nur „behindertenfreundliche“ U- und S-Bahn-Stationen. Geschwindelt wird auch bei „behindertengerechten“ Bussen, bei denen bestenfalls jede dritte Rampe funktioniert oder „behindertengerechtes“ Bauen (so die Überschrift des „neuen“ § 51 der Berliner Bauordnung), wonach im Wohnbereich oder im Arbeitsbereich selbst bei Neubauten (!) bauliche Hindernisse errichtet werden dürfen. „Etikettenschwindel“ sind ferner die sogenannte „Landesbeauftragte für Behinderte“, von der man das ganze Jahr über nichts hört und nichts sieht, oder die rechtlich wie politisch völlig unverbindlichen „Leitlinien zum Ausbau Berlins als behindertengerechte Stadt“, in deren Vorwort es als „erstaunlicher Fortschritt“ hingestellt wird, daß sich die Zahl der behindertengerechten öffentlichen Toiletten mehr als verdoppelt habe auf „derzeit 34“, also im Schnitt eine Toilette auf rund 30 Quadratkilometer! Diese Leitlinien stammen aber nicht etwa aus den Nachkriegsjahren, sondern sind das Ergebnis jahrelangen „Bemühens“ der Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD).

Das macht etwas ratlos, denn was könnte einen solchen Senat oder eine solche Verwaltung zu einer Änderung seiner ausgrenzenden Politik bewegen? Müssen erst Gutachten in Auftrag gegeben werden, um zu klären, wie sich einzelne Stufen oder Treppen auf Rollstühle auswirken oder inwieweit die Verdauung von Behinderten mit der Verdauung von Nichtbehinderten vergleichbar ist, diese Art von Menschen also auch Toiletten brauchen? [...]

Von allen Problemen, mit denen man sich als Behinderter auseinandersetzen muß (Lebensperspektive, Familienplanung, Partnerschaft, Arbeitsplatz, Pflege und Pflegeversicherung, gesellschaftliche Anerkennung usw.), wären die baulichen und technischen Probleme am leichtesten lösbar. Die USA, Kanada, Skandinavien, Dänemark, Holland und andere können es ja auch. Doch in Deutschland muß man sich mit diesen „Problemen“ herumschlagen, bis einem die Kraft, die Zeit oder ganz einfach die Lust zur Gegenwehr ausgeht. Ich empfinde das als Gewalt, als strukturelle Gewalt, der man wehrlos ausgeliefert ist und die einen erst zu dem macht, was man einen „Behinderten“ nennt. Verantwortlich für diese Form der Gewalt sind nicht die einfachen BerlinerInnen (die sind sogar sehr hilfsbereit) oder die „gedankenlosen“ Bauherrn, sondern diejenigen, die es in der Hand hätten, etwas zu ändern, wenn sie nur wollten. Und die sitzen in bestimmten Fraktionen im Abgeordnetenhaus, im Senat, in der (Bau-)Verwaltung und in den Verkehrsbetrieben (BVG oder S-Bahn GmbH). Klaus Fischbach

Derzeit gibt es in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Frank Castorfs „Stadt der Frauen“ zu sehen. Über den künstlerischen Wert der Inszenierung läßt sich streiten. Darüber, daß Rollstuhlfahrer mehr oder weniger vom Programm ausgeschlossen sind, nicht. Wenn ich als Rollstuhlfahrer fünf Jahre nach der Vereinigung im Foyer zwei lose Schienen hingelegt bekomme, über die ich drei hohe Stufen erklimmen soll, empfinde ich das als Ignoranz. Eine feste Rampe oder ein TÜV-gerechtes Treppensteigegerät hat mittlerweile jedes Provinztheater zu bieten. [...]

Glücklich im Zuschauerraum, bekam ich die einzig benutzbare Stellfläche, die sich neben der vorderen rechten Einlaßtür befand. So hatte ich in die rechte Bühnenhälfte kaum Einblick. Ganz unzumutbar war jedoch die Tatsache, daß sich genau in meiner Augenhöhe der obere Rand der Absperrung zum Orchestergraben befand. Ein derartiger Querstrich durchs Bild ist für normal bewegliche Menschen schon lästig. Da ich fast völlig bewegungsunfähig bin, konnte ich nicht drum herumsehen, hatte also zweieinhalb Stunden Castorf quergeteilt. Außerdem mußte ich mit dem Rücken zur Tür stehen, was eine weitere Einschränkung meines Theatergenusses bedeutete, denn ich war nicht nur gezwungen, unbequem zu sitzen, ich wurde auch häufig gestört von Besuchern, die sich auf dem Weg nach draußen an mir vorbeizwängen mußten. Von einer Mitarbeiterin bekam ich dann zu hören, daß ein entsprechender Umbau Unsummen kosten würde. [...] Es hätte keiner Millionen bedurft, lediglich eines Quentchens Kreativität: die untere Stufe einen halben Meter nach vorn verlängert – schon hätte es eine angemessene Fläche gegeben, von der zwar immer noch nicht die rechte Bühnenhälfte einsehbar, jedoch eine zumutbare Blickrichtung – zudem ohne Querbalken, weil 15 Zentimeter erhöht – möglich wäre. Das Bühnenbild ist vor allem eine tischlerische Leistung. Die halbe Stufe wäre da ohne nennenswerte Mehraufwendungen mit drin gewesen.

[...] In der „Stadt der Frauen“ wird dem staunenden Publikum demonstriert, daß es technisch möglich ist, lebende Pferde, zudem mit deutlich eregiertem Maskulinum (absolut in die Dramaturgie passend), auftreten zu lassen. Will die Volksbühne als das Haus, in dem im Rollstuhl sitzenden Menschen kein sicherer Besuch, geschweige denn eine gute Sicht garantiert werden kann, in die Annalen eingehen? Matthias Vernaldi

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