piwik no script img

Fundstücke

Gesammelt vom Straßenrand  ■ Von Gabriele Goettle

Unglaublich, daß wir uns auf diesem umtosten Parkplatz zwischen Tankstelle und Autobahn wie gerettet fühlten. Noch dazu stank es nach Abgasen und Benzin. Aber alles schien uns in diesem Moment annehmbarer, als in den abendlich hektischen Autobahnverkehr hineingerissen zu werden. Wir aßen Erdnüsse, und plötzlich flammten die orangefarbenen Lichter auf, mit denen in Belgien auch Autobahnen, Parkplätze und Tankstellen beleuchtet werden.

Schon vorher waren mir diese merkwürdigen weißen Punkte aufgefallen, die auf dem schmalen Grünstreifen zwischen Truckparkplatz und Asphalt hin und her hüpften. Nun, unter dem Licht, waren sie deutlich als Katzen zu erkennen. Weiße Katzen mit kleinen schwarzen Flecken auf dem Rücken. Es waren vier erwachsene Tiere. Zwischen ihnen hindurch und um sie herum raste irrlichtartig ein fünftes winziges Kätzchen. Die vier erwachsenen Katzen bewegten sich in einer ungewöhnlichen Weise vorwärts. Ihr Gang war weder ein federndes Dahinspringen noch geducktes Schleichen, sondern vielmehr ein eiliges Trippeln, unterbrochen von ruckartigem Verharren. Dabei hielten sie den Körper leicht gekrümmt, wie zusammengezogen unter der Anspannung. Das gab ihnen fast ein wenig das Aussehen von Hasen. Selbst unser Hund, der Katzen normalerweise ignoriert, ließ sich einen Moment lang täuschen.

Was diese Anspannung hervorrief, ließ sich unschwer nachempfinden. Im Dröhnen der Motoren und Vibrieren des Bodens die wirklich nahende Gefahr von der ständig vorhandenen, allgemeinen Gefahr zu unterscheiden, verlangt eine Schulung aller Sinne in einem niemals von der Natur vorgesehenen Ausmaß. Nicht das leise Rascheln der Maus muß erlauscht und richtig gedeutet werden, sondern Brüllen und Donnern vorbeifahrender und hereinfahrender Zwanzigtonner. Wie diese fünf Tiere ihre schwere Arbeit bewerkstelligen, wurde uns bald vorgeführt. Zwei der Katzen betraten den breiten Asphaltstreifen, umkreist vom übermütigen Kätzchen. Die beiden anderen blieben zurück. Und schon zeigten sich in der Einfahrt die Scheinwerfer eines Lastwagens. Aber die Katzen beschleunigten ihren Gang nicht. Wir beobachteten sie mit Herzklopfen, sahen dann jedoch, daß der Lkw in die Spur zur Tankstelle einbog. Nicht so der hinter ihm folgende, vor dem die Katzen in rasenden Sätzen die Flucht ergriffen. Kaum war er vorbei, überquerten die beiden zurückgebliebenen Tiere gemessenen Schrittes die Fahrspuren.

Der abendliche Streifzug galt offenbar den Abfalltonnen, die alle paar Meter neben den steinernen Tischen und Bänken stehen. Ich zögerte nicht lange und warf den scheu zurückweichenden Katzen unsere gesamten Fleisch- und Wurstvorräte hin, die sie nach kurzem Zögern hastig verschlangen. Danach verschwanden sie. Wir fütterten den Hund mit Keksen und Ölsardinen, bis er einen einigermaßen zufriedengestellten Eindruck machte. Später, als wir die Katzen schon fast vergessen hatten, sahen wir sie plötzlich auf der kalten Tischplatte draußen liegen, eng aneinandergekauert, sich gegenseitig ab und zu beleckend, ganz so, als lägen sie auf der berühmten Ofenbank. Nach einer Weile blieben sie mit halbgeschlossenen Augen so beieinander, und sogar das Kleine schien zu schlafen. Dann erhoben und streckten sie sich, so als würden sie sich zur Ordnung rufen müssen oder besser gesagt zum Gegenteil.

Der Anblick dieser Kreaturen ließ etwas Furchtbares ahnen, ihre Lebensumstände waren dem Schreckensbild hungrig umherstreifender Menschengruppen zum Verwechseln ähnlich. Und das Schlimmste daran schien nicht einmal der elende Zustand selbst zu sein, sondern die virtuose Einstellung auf alle Zumutungen. Das Sich-Spezialisieren aufs Überleben in den brutalsten Verhältnissen, das In-ihnen-Sich-Einrichten bis hin zur imaginierten Nestwärme.

Am anderen Morgen, vom fahrenden Auto aus, sahen wir dann etwas, das einer Halluzination glich: An der Autobahneinfahrt, sozusagen neben der Einfädelspur, standen, hart am Straßenrand, ein prächtiger bunter Hahn und fünf braune Hennen um ein weggeworfenes Baguette herum. Sie pickten heftig den Belag heraus. Aber nicht nur die Haustiere, Sinnbilder friedvoller Bauernhofgemütlichkeit, entpuppten sich als eisern entschlossene Kulturfolger, auch die scheuen Wesen aus Wald und Flur schrecken nicht davor zurück, Kadaver überfahrener Vorgänger vom Asphalt zu reißen, als freundlich hingebreitete Gottesgabe. Einige bezahlen diese Tollkühnheit mit ihrem Leben, andere lernen auf rätselhafte Weise, sich auf einen vollkommen abstrakten Sicherheitsabstand einzustellen.

Fremde Sitten

Morgens um halb sechs war die Autobahnraststätte nahe der belgisch-niederländischen Grenze noch geschlossen. Die Toilettenanlage jedoch, bei der sich auch zwei frei zugängliche Duschkabinen befanden, waren die ganze Nacht über geöffnet, beheizt und beleuchtet. Wir wollten eigentlich duschen vor Beginn des Frühbetriebes und betraten zuversichtlich den Vorraum. Wir fanden ihn voller Männer. Braunhäutige Jünglinge mit weißem Turban, in lange Gewänder gehüllt, standen an die Heizkörper gelehnt, hielten ihre Handtücher über dem Arm und unterhielten sich in Arabisch. Ältere Männer mit dunklen Turbanen standen ein wenig abseits und streiften uns kurz mit dem Blick. Auch die jungen Männer verhielten sich so. Nur eine der Duschen war besetzt. Aus der offenen Tür zur Herrentoilette kam der Geruch von Rasierwasser und Seife, es wurde gehustet und gelacht. Elisabeth verschwand in der freien Dusche, und ich betrat die Damentoilette, das heißt, ich wollte sie betreten. Die Tür öffnete sich aber im selben Moment, und sieben tief verschleierte Frauen kamen übermütig kichernd heraus. Mit ihnen eine warme Wolke aus Wasserdampf. Drinnen standen noch zwei Frauen an den Waschbecken, die jüngere trug einen Schleier, der nur die Augen freiließ, die ältere war unverschleiert unter ihrem Kopftuch. Der ganze Raum dampfte, die lange Reihe der Spiegel war beschlagen, ebenso die Kacheln. Das gab dem ansonsten doch immer sachlichen Aussehen solcher Räume etwas sehr intimes, etwas vom Hammam. Ich grüßte französisch, sie arabisch und französisch.

Normalerweise betritt man eine solche Anlage eher grußlos, verrichtet die entsprechenden Tätigkeiten in strenger Distanz zum Nächsten und geht ebenso grußlos. Die Situation war in diesem Falle eine andere. So wählte ich nicht ein von den Frauen entfernt liegendes Waschbecken, sondern wusch mir direkt neben ihnen die Hände. Und sofort drehte die ältere der Frauen, die mit dem Rücken zu mir gewandt war, sich etwas zur Seite, so, daß nun ihr halbes Körperprofil zu sehen war. Es fiel mir nebenbei auf, wie eng Vorsicht und Höflichkeit zusammenhängen. Plötzlich stellte die junge Frau ihren nackten rechten Fuß auf den Beckenrand und begann ihn zu massieren. Dieser Fuß war dick aufgepolstert wie eine Bärentatze und wirkte monströs zwischen den zarten Händen. Ein mächtiges Stück Fleisch war oben auf den Spann genäht. In der dunklen Haut waren die hell vernarbten Stiche deutlich zusehen. Die junge Frau sah mich an, und es schien so, als würde sie beschwichtigend lächeln. Da ich aber lediglich ihre Augen sah durch den schmalen Schlitz, nicht einmal die Brauen, konnte ich mich natürlich irren. Also fragte ich, halb mit Gesten, halb in Französisch, wie das mit ihrem linken Fuß passiert sei. Was unter anderen Umständen ein grober Verstoß gewesen wäre, wurde hier geradezu ein Gebot des Taktes, schien mir. Und sie machte sogleich eine erklärende Geste, die des Autofahrens, und sagte: „Un accident.“ Dann drehte sie ihr Knie ein wenig zur Seite, deutete auf die Hüfte, packte dann eine dicke Falte ihres Gewandes, ließ sie los, formte die Hand so, als hielte sie etwas, das auf den Fuß gelegt werden soll. Daraufhin musterten mich die beiden Augen unter dem Stoff, und ich gab sofort zu erkennen, verstanden zu haben. Die ältere Frau ergriff den Fuß und bewegte ihn zart im Gelenk, um zu demonstrieren, daß alles funktio

Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

niert und sagte: „Le chirurgien ... une artiste!“ Ich nickte und hielt meine Hände unter den elektrischen Trockner, er sprang aber nicht an. Die junge Frau zog ihren schwarzen dünnen Strumpf über den Fuß und schlüpfte in einen sandalenartigen Schuh. Ich klopfte gegen den Trockner, der wider Erwarten ansprang, doch plötzlich reichte die ältere Frau mir ihr zusammengelegtes weißes Handtuch, das sie die ganze Zeit über auf ihrer linken Handfläche getragen hatte.

Als ich wenig später hinaustrat in die kalte Morgenluft und sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich die Turbane schimmern. Es war, als würden sie zu Boden schweben auf der kleinen Rasenfläche neben den Abfalleimern, zwischen dem schütteren Buschwerk und der kleinen Verkehrsinsel mit Hinweistafel. Die Betenden knieten vornübergebeugt, auf winzigen Teppichen, die Stirn zum immer noch vollkommen dunklen Osten gewandt. Als es dann zu dämmern begann, wir hatten uns gerade einen Tee bereitet, sahen wir die Gruppe zum letzten Mal. Sie bestieg den Laderaum eines Lieferwagens.

Fahren und Schlafen

Durchs Autofenster hindurch beobachtete ich, wie die riesigen Lastzüge mit viel zu hoher Geschwindigkeit in die Parkbucht einbogen. Es war nach Mitternacht, und ich konnte nicht einschlafen. Die Lkw-Fahrer durften nicht schlafen, um keine Zeit zu verlieren. Einige gingen bis zum WC, andere urinierten an den nächsten Baum, um gleich darauf weiterzufahren. Hinter den Frontscheiben der schweren Trucks tummelten sich die kompliziertesten Lichtspiele. Je nach persönlichem Geschmack stürzten ganze farbige Kaskaden am Fensterrahmen hinab. Ornamente aus Lichterketten, blinkende Bilder, Mercedessterne, Herzen oder auch der Vorname in Leuchtbuchstaben schmückten die Windschutzscheiben. Das heimelige Blinken und Glimmen inmitten der Dunkelheit erinnerte an weihnachtliche Wohnzimmerfenster. Nur daß diese Wohnzimmer auf einem zwanzig Tonnen schweren Klotz mit hundert und mehr Stundenkilometer durch die Nacht rasen, macht den Unterschied aus.

Ich konnte mir in dieser Nacht einfach nicht erklären, wie dieser Prozeß der Abrichtung eigentlich bewerkstelligt wird. Jeder, der in solch einen Lkw steigt, wiegt sich und alle anderen in Sicherheit. Doch die wuchtige Maschine, einmal beschleunigt, ist im Gefahrenfall gar nicht mehr rechtzeitig zu bremsen. Dennoch sah ich die Fahrer zuversichtlich einsteigen, die Türen flogen zu, und schon ging es weiter, mit donnernden, stampfenden Motorgeräuschen. Die Katzengeschichte fiel mir wieder ein, und plötzlich wurde klar, daß mir bei ihr ein Denkfehler unterlaufen war. Nicht die Schärfung aller Sinne war vonnöten für die Meisterung der brutalen Anforderungen, sondern ihre Verkümmerung und Abstumpfung! Nur so kann Todesverachtung den Selbsterhaltungstrieb fast unbemerkt ersetzen. Wir hatten es am eigenen Leib erfahren. Und das im genauen Wortsinn.

Mir schien diese ganze Idee von einem einzigen, untereinander offenen, Waren produzierenden und Waren transportierenden Europa vollkommen wahnsinnig. Ich erinnerte mich an unsere Fahrten auf der Autobahn, und es war ganz egal, ob ich an die deutsche, die niederländische, die belgische, die französische oder die spanische Autobahn dachte, es waren immer die gleichen Bilder: Die rechte Fahrbahn und zunehmend auch die danebenliegende Spur gehören eigentlich bereits dem Gütertransport. Sie sind so etwas wie ein sich über Tausende von Kilometern erstreckendes Warenlager.

Es heißt, daß der Güterverkehr sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdreifacht hat, sich bis zur Jahrtausendwende nochmals verdoppeln soll. Nur wie? Es ist doch jetzt schon unübersehbar, daß es nicht weitergeht, abermals im Wortsinn. In Flandern lagen an einer Raststätte staatliche Verkehrsinformationen im Zeitschriftenformat aus. Man konnte sich sozusagen den passenden Stau aus Tabellen aussuchen. Auf dem Ring und den Abfahrten um Brüssel herum, in der Zeit von sieben bis zehn oder siebzehn bis neunzehn Uhr: auf der A 1 zehn Kilometer, auf der A 4 nur fünf Kilometer. Und daß Aufforderungen wie Snelheid aanpassen bij regenweer mit detaillierten Erläuterungen notwendig sind, ist ein Zeichen für die chronische Absence der Verkehrsteilnehmer. Jeder zirkuliert für sich allein in den Verkehrsadern, mit dieser unerhörten europäischen Geschwindigkeit, die auch dann noch wirksam bleibt, oder sogar brutaler wirksam wird, wenn sie zum Stillstand kommt. So wie im Stau. Der Zeitverlust muß wieder „hereingefahren“ werden. Und das alles liegt in den Händen von derart unmodernen menschlichen Körpern, die nicht mal reiß- und stoßfest sind. Das kam mir in jener Nacht ausgesprochen absurd vor.

Einer dieser Körper lenkte gegen vier Uhr morgens seinen Viehtransporter auf den Rastplatz, parkte ihn unter einer Bogenlampe und verschwand in der Fernfahrerkneipe. Die Büfettkraft, eine Frau über Vierzig, schenkte dem Gast ihr spezielles Lächeln, zwischen Verruchtheit und Mütterlichkeit. Dann wandte sie sich ab und setzte wortlos die Espressomaschine in Gang. Der junge Mann zündete eine Zigarette an und ließ den Blick auf den Titelblättern der Pornohefte ruhen. Sie standen, ganz selbstverständlich, neben anderem Autozubehör wie Straßenkarten und Antibeschlagtüchern. Währenddessen herrschte draußen im Viehtransporter merkwürdige Lautlosigkeit. Ich stieg auf einen direkt daneben liegenden Erdwall. Im fahlen Licht, das durch die vergitterten Luken in den Laderaum fiel, sah ich schlafende Schweine. Kreuz und quer durcheinander und übereinander liegend, mit angeklappten Ohren und aufeinander gebetteten Köpfen sahen sie aus wie ein gemütlicher Sauhaufen. Tatsächlich aber waren sie, unmittelbar nach dem Stillstand des Fahrzeuges, niedergebrochen und in einen ohnmachtsartigen Tiefschlaf gefallen. Erschöpft nicht zuletzt auch vom unentwegten Ausbalancieren des Körpers auf dem vibrierenden, schwankenden Untergrund.

Schmutziger Greis

Einen derart schmutzigen Menschen bekommt man nicht alle Tage zu sehen, deshalb blieben wir eine Weile, fasziniert von der magischen Anziehungskraft dieser Erscheinung. Der Mann, schätzungsweise um die Fünfundsiebzig, mager und schwerhörig, bewohnt ein zweistöckiges Haus, das kaum breiter als vier Meter ist. Es liegt an der Dorf- und zugleich Durchgangsstraße eines winzigen Ortes in den Pyrenäen. Wie auch die größeren Häuser an der Straße, dehnt es sich nach hinten aus und mündet in einen Garten, von dem aus man weit hinunter in die Ebene blicken kann. Aber der alte Mann hat den Garten schon seit Jahren nicht mehr betreten, auch das obere Stockwerk seines Hauses nicht. Sein tägliches Leben spielt sich in einem einzigen, zur Straße liegenden Zimmer ab und auf fünfzig Zentimetern Straße vor dem Fenster.

Sobald der erste Sonnenstrahl die Haustür erreichte, öffnete sie sich und heraus trat der alte Mann, schwer tragend an einem Klappstuhl. Er stellte ihn vor dem geöffneten Fenster seines Zimmers sorgfältig auf und ließ sich dann langsam darauf nieder. Der Stoff an Rücken- und Sitzfläche, oftmals geflickt und ausgefranst, hatte eine ebenso undefinierbare Färbung angenommen wie Jacke und Hose seines langjährigen Besitzers. Es war eine grauschwarze, speckig glänzende Schicht, fast gleichmäßig, nur an den Rändern schimmerten Reste eines ausgebleichten Musters durch, die Struktur des Gewebes. Wir kamen dem Geheimnis dieses Glanzes beim Spazierengehen auf die Spur. Die Böden der Umgebung bestehen aus einem teils gelblichen, teils olivfarbenen Lehm. Der feine Staub wird vom Wind mitgefegt. Auch ins Dorf. Aber kaum jemand hat wohl die Stäube und Winde so vieler Jahre konserviert und leibhaftig an sich aufbewahrt.

Der alte Mann saß also vor seinem offenen Fenster und trug als Schutz vor der Sonne einen selbstverfertigten Hut, gefaltet aus einer vergilbten Zeitung der siebziger Jahre. Hinter dem geöffneten Fenster lagen meist drei besonders kleine französische Bulldoggen auf dem Tisch. Durch ein Polster bequem ruhend, hoben sie zwischen den schmutzigen Tellern und Gläsern kaum den Kopf für vorbeigehende Fremde, nur die fledermausartigen Ohren drehten sich mit dem Geräusch der Schritte für einen Moment. Die Dinge hinter dem Tisch verloren sich in der Dunkelheit des Raumes. Undeutlich war ein Bettgestell zu erkennen und sich auftürmende, übereinandergestapelte Schachteln. Auf dem Fenstersims stand ein Schälchen mit leicht befeuchtetem Würfelzucker, zur Fütterung der Wespen, denen der Alte gern zusah, wenn sonst nichts los war auf der Straße. Desweiteren eine Schüssel mit in Milch eingebrocktem alten Brot. Ich fand nicht heraus, ob es die Schüssel des Mannes oder die der Hunde war. Ich glaube beides traf zu. Mittags jedenfalls, Punkt zwölf, verschwand der Alte ins Innere, um das zu tun, was ganz Frankreich tat, nämlich ausführlich zu essen. Eine Nachbarin brachte ihm alles auf einem Tablett. Ab 14.30 Uhr aber sah man ihn wieder auf seinem Stuhl vor dem Haus, bis zum Abend, bis Sonnenuntergang. Wenn ich später in der Dunkelheit mit dem Hund noch mal einen Spaziergang machte, sah ich den Alten unmittelbar vor dem gewaltigen Bildschirm eines Fernsehers mit vollkommen falsch eingestellten Farben sitzen.

Früher hatte der Mann eine Pizzabäckerei betrieben, früher war auch das Dorf insgesamt belebter. Dafür fuhren heute durch die schmale Dorfstraße ab und zu Lastwagen, die nur mit Millimeterarbeit an den Giebeln und Hausecken vorbeikamen. Auch der Alte war ein ausgesprochenes Verkehrshindernis in solchen Situationen. Er rührte keine Braue, wich um keinen Millimeter zurück. Die Profile der Zwillingsreifen schoben sich haarscharf neben dem Klappstuhl übers Kopfsteinpflaster. Stoisch saß der Alte in der schwarzen Dieselwolke. Einmal pro Woche kam ein alter Lieferwagen mit Fleisch und Wurst. Kaum ertönte die Glocke, schon stürzten sich die Hunde des Mannes mit einem gemeinsamen grauenerregenden Schmerzensschrei durchs offene Fenster auf die Straße und umbrandeten den Metzger. Das geschah donnerstags.

Wir hatten fast eine Woche lang mehrmals am Tage den alten Mann grüßend passiert, aber nie angesprochen. Er hob jedesmal, auch wenn ich fest glaubte, er würde dösen, sofort seine lange magere Greisenhand mit den dicken Gelenken und machte eine kurze winkende Bewegung. Danach sank er wieder zusammen. Am Tag unserer Weiterfahrt entschloß ich mich, ihm die Reste unseres Hundefutters zu bringen. Nachdem der Alte die Tüte dankend entgegengenommen hatte, stand er überraschend behende auf, griff hinein und warf die Gurgeln und Schlünde über die Köpfe der auffliegenden Hunde ins Zimmer hinein. Dann wandte er mir sein Gesicht zu und erklärte seufzend, er habe ursprünglich acht solcher Hunde gehabt, fünf seien aber zum Glück im Laufe der Zeit überfahren worden, und mit den drei verbliebenen lebe es sich ganz gut. Als wir davonfuhren, erfaßte uns eine Art Wehmut.

Der erste Satz, den wir bei unserer Einfahrt nach Deutschland lasen, war auf eine Eisenbahnbrücke gesprüht. „Bringt Euch um!“ stand da in schwarzer Farbe. Der erste gesprochene Satz, den wir hörten, lautete: „Ein Pfund Kaffee, reizarm bitte!“

Fortsetzung

niert und sagte: „Le chirurgien ... une artiste!“ Ich nickte und hielt meine Hände unter den elektrischen Trockner, er sprang aber nicht an. Die junge Frau zog ihren schwarzen dünnen Strumpf über den Fuß und schlüpfte in einen sandalenartigen Schuh. Ich klopfte gegen den Trockner, der wider Erwarten ansprang, doch plötzlich reichte die ältere Frau mir ihr zusammengelegtes weißes Handtuch, das sie die ganze Zeit über auf ihrer linken Handfläche getragen hatte.

Als ich wenig später hinaustrat in die kalte Morgenluft und sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich die Turbane schimmern. Es war, als würden sie zu Boden schweben auf der kleinen Rasenfläche neben den Abfalleimern, zwischen dem schütteren Buschwerk und der kleinen Verkehrsinsel mit Hinweistafel. Die Betenden knieten vornübergebeugt, auf winzigen Teppichen, die Stirn zum immer noch vollkommen dunklen Osten gewandt. Als es dann zu dämmern begann, wir hatten uns gerade einen Tee bereitet, sahen wir die Gruppe zum letzten Mal. Sie bestieg den Laderaum eines Lieferwagens.

Fahren und Schlafen

Durchs Autofenster hindurch beobachtete ich, wie die riesigen Lastzüge mit viel zu hoher Geschwindigkeit in die Parkbucht einbogen. Es war nach Mitternacht, und ich konnte nicht einschlafen. Die Lkw-Fahrer durften nicht schlafen, um keine Zeit zu verlieren. Einige gingen bis zum WC, andere urinierten an den nächsten Baum, um gleich darauf weiterzufahren. Hinter den Frontscheiben der schweren Trucks tummelten sich die kompliziertesten Lichtspiele. Je nach persönlichem Geschmack stürzten ganze farbige Kaskaden am Fensterrahmen hinab. Ornamente aus Lichterketten, blinkende Bilder, Mercedessterne, Herzen oder auch der Vorname in Leuchtbuchstaben schmückten die Windschutzscheiben. Das heimelige Blinken und Glimmen inmitten der Dunkelheit erinnerte an weihnachtliche Wohnzimmerfenster. Nur daß diese Wohnzimmer auf einem zwanzig Tonnen schweren Klotz mit hundert und mehr Stundenkilometer durch die Nacht rasen, macht den Unterschied aus.

Ich konnte mir in dieser Nacht einfach nicht erklären, wie dieser Prozeß der Abrichtung eigentlich bewerkstelligt wird. Jeder, der in solch einen Lkw steigt, wiegt sich und alle anderen in Sicherheit. Doch die wuchtige Maschine, einmal beschleunigt, ist im Gefahrenfall gar nicht mehr rechtzeitig zu bremsen. Dennoch sah ich die Fahrer zuversichtlich einsteigen, die Türen flogen zu, und schon ging es weiter, mit donnernden, stampfenden Motorgeräuschen. Die Katzengeschichte fiel mir wieder ein, und plötzlich wurde klar, daß mir bei ihr ein Denkfehler unterlaufen war. Nicht die Schärfung aller Sinne war vonnöten für die Meisterung der brutalen Anforderungen, sondern ihre Verkümmerung und Abstumpfung! Nur so kann Todesverachtung den Selbsterhaltungstrieb fast unbemerkt ersetzen. Wir hatten es am eigenen Leib erfahren. Und das im genauen Wortsinn.

Mir schien diese ganze Idee von einem einzigen, untereinander offenen, Waren produzierenden und Waren transportierenden Europa vollkommen wahnsinnig. Ich erinnerte mich an unsere Fahrten auf der Autobahn, und es war ganz egal, ob ich an die deutsche, die niederländische, die belgische, die französische oder die spanische Autobahn dachte, es waren immer die gleichen Bilder: Die rechte Fahrbahn und zunehmend auch die danebenliegende Spur gehören eigentlich bereits dem Gütertransport. Sie sind so etwas wie ein sich über Tausende von Kilometern erstreckendes Warenlager.

Es heißt, daß der Güterverkehr sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdreifacht hat, sich bis zur Jahrtausendwende nochmals verdoppeln soll. Nur wie? Es ist doch jetzt schon unübersehbar, daß es nicht weitergeht, abermals im Wortsinn. In Flandern lagen an einer Raststätte staatliche Verkehrsinformationen im Zeitschriftenformat aus. Man konnte sich sozusagen den passenden Stau aus Tabellen aussuchen. Auf dem Ring und den Abfahrten um Brüssel herum, in der Zeit von sieben bis zehn oder siebzehn bis neunzehn Uhr: auf der A 1 zehn Kilometer, auf der A 4 nur fünf Kilometer. Und daß Aufforderungen wie Snelheid aanpassen bij regenweer mit detaillierten Erläuterungen notwendig sind, ist ein Zeichen für die chronische Absence der Verkehrsteilnehmer. Jeder zirkuliert für sich allein in den Verkehrsadern, mit dieser unerhörten europäischen Geschwindigkeit, die auch dann noch wirksam bleibt, oder sogar brutaler wirksam wird, wenn sie zum Stillstand kommt. So wie im Stau. Der Zeitverlust muß wieder „hereingefahren“ werden. Und das alles liegt in den Händen von derart unmodernen menschlichen Körpern, die nicht mal reiß- und stoßfest sind. Das kam mir in jener Nacht ausgesprochen absurd vor.

Einer dieser Körper lenkte gegen vier Uhr morgens seinen Viehtransporter auf den Rastplatz, parkte ihn unter einer Bogenlampe und verschwand in der Fernfahrerkneipe. Die Büfettkraft, eine Frau über Vierzig, schenkte dem Gast ihr spezielles Lächeln, zwischen Verruchtheit und Mütterlichkeit. Dann wandte sie sich ab und setzte wortlos die Espressomaschine in Gang. Der junge Mann zündete eine Zigarette an und ließ den Blick auf den Titelblättern der Pornohefte ruhen. Sie standen, ganz selbstverständlich, neben anderem Autozubehör wie Straßenkarten und Antibeschlagtüchern. Währenddessen herrschte draußen im Viehtransporter merkwürdige Lautlosigkeit. Ich stieg auf einen direkt daneben liegenden Erdwall. Im fahlen Licht, das durch die vergitterten Luken in den Laderaum fiel, sah ich schlafende Schweine. Kreuz und quer durcheinander und übereinander liegend, mit angeklappten Ohren und aufeinander gebetteten Köpfen sahen sie aus wie ein gemütlicher Sauhaufen. Tatsächlich aber waren sie, unmittelbar nach dem Stillstand des Fahrzeuges, niedergebrochen und in einen ohnmachtsartigen Tiefschlaf gefallen. Erschöpft nicht zuletzt auch vom unentwegten Ausbalancieren des Körpers auf dem vibrierenden, schwankenden Untergrund.

Schmutziger Greis

Einen derart schmutzigen Menschen bekommt man nicht alle Tage zu sehen, deshalb blieben wir eine Weile, fasziniert von der magischen Anziehungskraft dieser Erscheinung. Der Mann, schätzungsweise um die Fünfundsiebzig, mager und schwerhörig, bewohnt ein zweistöckiges Haus, das kaum breiter als vier Meter ist. Es liegt an der Dorf- und zugleich Durchgangsstraße eines winzigen Ortes in den Pyrenäen. Wie auch die größeren Häuser an der Straße, dehnt es sich nach hinten aus und mündet in einen Garten, von dem aus man weit hinunter in die Ebene blicken kann. Aber der alte Mann hat den Garten schon seit Jahren nicht mehr betreten, auch das obere Stockwerk seines Hauses nicht. Sein tägliches Leben spielt sich in einem einzigen, zur Straße liegenden Zimmer ab und auf fünfzig Zentimetern Straße vor dem Fenster.

Sobald der erste Sonnenstrahl die Haustür erreichte, öffnete sie sich und heraus trat der alte Mann, schwer tragend an einem Klappstuhl. Er stellte ihn vor dem geöffneten Fenster seines Zimmers sorgfältig auf und ließ sich dann langsam darauf nieder. Der Stoff an Rücken- und Sitzfläche, oftmals geflickt und ausgefranst, hatte eine ebenso undefinierbare Färbung angenommen wie Jacke und Hose seines langjährigen Besitzers. Es war eine grauschwarze, speckig glänzende Schicht, fast gleichmäßig, nur an den Rändern schimmerten Reste eines ausgebleichten Musters durch, die Struktur des Gewebes. Wir kamen dem Geheimnis dieses Glanzes beim Spazierengehen auf die Spur. Die Böden der Umgebung bestehen aus einem teils gelblichen, teils olivfarbenen Lehm. Der feine Staub wird vom Wind mitgefegt. Auch ins Dorf. Aber kaum jemand hat wohl die Stäube und Winde so vieler Jahre konserviert und leibhaftig an sich aufbewahrt.

Der alte Mann saß also vor seinem offenen Fenster und trug als Schutz vor der Sonne einen selbstverfertigten Hut, gefaltet aus einer vergilbten Zeitung der siebziger Jahre. Hinter dem geöffneten Fenster lagen meist drei besonders kleine französische Bulldoggen auf dem Tisch. Durch ein Polster bequem ruhend, hoben sie zwischen den schmutzigen Tellern und Gläsern kaum den Kopf für vorbeigehende Fremde, nur die fledermausartigen Ohren drehten sich mit dem Geräusch der Schritte für einen Moment. Die Dinge hinter dem Tisch verloren sich in der Dunkelheit des Raumes. Undeutlich war ein Bettgestell zu erkennen und sich auftürmende, übereinandergestapelte Schachteln. Auf dem Fenstersims stand ein Schälchen mit leicht befeuchtetem Würfelzucker, zur Fütterung der Wespen, denen der Alte gern zusah, wenn sonst nichts los war auf der Straße. Desweiteren eine Schüssel mit in Milch eingebrocktem alten Brot. Ich fand nicht heraus, ob es die Schüssel des Mannes oder die der Hunde war. Ich glaube beides traf zu. Mittags jedenfalls, Punkt zwölf, verschwand der Alte ins Innere, um das zu tun, was ganz Frankreich tat, nämlich ausführlich zu essen. Eine Nachbarin brachte ihm alles auf einem Tablett. Ab 14.30 Uhr aber sah man ihn wieder auf seinem Stuhl vor dem Haus, bis zum Abend, bis Sonnenuntergang. Wenn ich später in der Dunkelheit mit dem Hund noch mal einen Spaziergang machte, sah ich den Alten unmittelbar vor dem gewaltigen Bildschirm eines Fernsehers mit vollkommen falsch eingestellten Farben sitzen.

Früher hatte der Mann eine Pizzabäckerei betrieben, früher war auch das Dorf insgesamt belebter. Dafür fuhren heute durch die schmale Dorfstraße ab und zu Lastwagen, die nur mit Millimeterarbeit an den Giebeln und Hausecken vorbeikamen. Auch der Alte war ein ausgesprochenes Verkehrshindernis in solchen Situationen. Er rührte keine Braue, wich um keinen Millimeter zurück. Die Profile der Zwillingsreifen schoben sich haarscharf neben dem Klappstuhl übers Kopfsteinpflaster. Stoisch saß der Alte in der schwarzen Dieselwolke. Einmal pro Woche kam ein alter Lieferwagen mit Fleisch und Wurst. Kaum ertönte die Glocke, schon stürzten sich die Hunde des Mannes mit einem gemeinsamen grauenerregenden Schmerzensschrei durchs offene Fenster auf die Straße und umbrandeten den Metzger. Das geschah donnerstags.

Wir hatten fast eine Woche lang mehrmals am Tage den alten Mann grüßend passiert, aber nie angesprochen. Er hob jedesmal, auch wenn ich fest glaubte, er würde dösen, sofort seine lange magere Greisenhand mit den dicken Gelenken und machte eine kurze winkende Bewegung. Danach sank er wieder zusammen. Am Tag unserer Weiterfahrt entschloß ich mich, ihm die Reste unseres Hundefutters zu bringen. Nachdem der Alte die Tüte dankend entgegengenommen hatte, stand er überraschend behende auf, griff hinein und warf die Gurgeln und Schlünde über die Köpfe der auffliegenden Hunde ins Zimmer hinein. Dann wandte er mir sein Gesicht zu und erklärte seufzend, er habe ursprünglich acht solcher Hunde gehabt, fünf seien aber zum Glück im Laufe der Zeit überfahren worden, und mit den drei verbliebenen lebe es sich ganz gut. Als wir davonfuhren, erfaßte uns eine Art Wehmut. Der erste Satz, den wir bei unserer Einfahrt nach Deutschland lasen, war auf eine Eisenbahnbrücke gesprüht. „Bringt Euch um!“ stand da in schwarzer Farbe. Der erste gesprochene Satz, den wir hörten, lautete: „Ein Pfund Kaffee, reizarm bitte!“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen