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Ein historischer Fall in der Schweiz vor Gericht

■ Der Polizist Grüninger wurde vor 55 Jahren verurteilt, weil er jüdische Flüchtlinge rettete. Seine Nachkommen fordern eine Wiederaufnahme des Verfahrens

Berlin (taz) – Vor dem Bezirksgericht in St. Gallen findet heute eine im doppelten Sinne historische Gerichtsverhandlung statt. Dabei geht es um den Schweizer Polizeioffizier Paul Grüninger, der vor 55 Jahren verurteilt wurde, weil er mehreren tausend jüdischen Flüchtlingen das Leben gerettet hatte. Das Bezirksgericht muß nun über den Antrag von Grüningers Nachkommen entscheiden, ob das Verfahren gegen den 1972 verstorbenen und einstigen St. Galler Polizeihauptmann und Flüchtlingsretter aufgrund neuer Erkenntnisse wiederaufgenommen und wiederholt wird. 50 Jahre nach Kriegsende könnte damit auch die Schweizer Flüchtlingspolitik zur Zeit des Nationalsozialismus bald vor Gericht stehen.

Im März 1938 marschierten deutsche Truppen in Österreich ein. Viele Juden, die aus Nazi- Deutschland nach Österreich geflohen waren, wurden nun auch dort verfolgt, ihr letzter Ausweg war die damals neutrale und sichere Schweiz. Die kleine Gemeinde Diepoldsau im St. Gallener Rheintal war für die Flüchtlinge eine der wenigen Möglichkeiten, sich vor den Nazi-Schergen zu retten. Der Rhein bildet dort die österreichisch-schweizerische Grenze, das Erreichen des Schweizer Ufers bedeutete Sicherheit. Paul Grüninger war zu jener Zeit Kommandant der St. Galler Kantonspolizei und erlebte tagtäglich erschütternde Flüchtlingsdramen.

Dann kam der 18. August 1938, ein schwarzer Tag in der Schweizer Geschichte. Die Berner Regierung beschloß, ab sofort die Grenzen dicht zu machen und alle Flüchtlinge zurückzuschicken. „Das Boot ist voll“, lautete die verheerende Devise, für Unzählige das sichere Todesurteil. Doch Paul Grüninger widersetzte sich. Er datierte die Einreisedaten in den Papieren der Flüchtlinge vor den August zurück, so daß es den Anschein hatte, sie seien noch vor der Grenzschließung ins Land gekommen. Zum Teil aus eigenen Mitteln finanzierte der mutige Grenzpolizist zusammen mit einigen Freunden ein Auffanglager und versuchte zu helfen, wo es ging. 3.000 Flüchtlinge konnten gerettet werden.

Im Frühjahr 1939 flog die Sache auf. Paul Grüninger wurde angezeigt und kurz darauf fristlos entlassen. Knapp zwei Jahre später wurde er vom Bezirksgericht St. Gallen wegen „Amtspflichtverletzung“ und „Urkundenfälschung“ zu einer Geldstrafe von 300 Franken verurteilt, zudem strich man ihm seine Pensionsansprüche. In der Folgezeit lebte Grüninger in ärmlichen Verhältnissen und hatte große Mühe, seine Familie und sich durchzubringen. Das änderte sich auch nach 1945 nicht, Paul Grüninger blieb weitgehend vergessen.

In den späten sechziger Jahren wurde Grüninger von den Medien „wiederentdeckt“. 1971 verlieh ihm die israelische Stiftung Yad Vashem die „Medaille der Gerechten“. Doch mehrere Versuche, Paul Grüninger in seinem Heimatland zu rehabilitieren, scheiterten. Zwar bestätigten ihm die St. Galler Behörden 1970 in einem Schreiben seine „damalige menschliche Einstellung“ und zollten ihm „ausdrückliche Anerkennung“, doch die Gerichtsentscheidung aus dem Jahre 1940 wollte man nicht zurücknehmen. 1972 starb Paul Grüninger. Er wurde 80 Jahre alt.

Erst im Herbst 1993 – der Schweizer Journalist Stefan Keller hatte gerade sein vielbeachtetes Buch zum Fall Grüninger veröffentlicht – erklärte sich die Regierung des Kantons St. Gallen bereit, ihren ehemaligen Beamten „politisch“ zu rehabilitieren. Der Schweizer Bundesrat schloß sich ein Jahr später an und verurteilte die früheren Maßnahmen gegen jüdische Emigranten als „unhaltbare rassistische Diskriminierung“. Dennoch: Juristische Konsequenzen zogen diese Verlautbarungen nicht nach sich. Formell gilt Paul Grüninger, und das ist ein wirklicher Skandal, immer noch als „Krimineller“.

In ihrem Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens argumentierten Grüningers Nachkommen unter anderem damit, daß die schweizerische Anordnung, Jüdinnen und Juden an der Grenze aufzuhalten und sie zu den Nazis zurückzuschicken, schon vor dem Zweiten Weltkrieg völkerrechtswidrig war. Bereits 1938 hatte die Schweizer Regierung die deutschen Behörden aufgefordert, die Pässe von jüdischen Bürgern mit dem „Judenstempel“ zu versehen, damit man sie an der Schweizer Grenze besser von „Ariern“ unterscheiden könne.

Der Basler Strafrechtsprofessor Mark Plieth hält eine Wiederaufnahme des Prozesses auch formaljuristisch für geboten und schreibt in seinem Gutachten: „Wäre dem Gericht zum Urteilszeitpunkt bekannt gewesen, was wir heute über den Völkermord an jüdischen Flüchtlingen wissen, hätte es aufgrund des damals geltenden Rechts nicht zögern dürfen, Grüninger auf der Basis rechtfertigenden Notstandes freizusprechen.“

Stimmt das Bezirksgericht St. Gallen der Wiederaufnahme des Prozesses zu, wird die damalige Flüchtlingspolitik der Eidgenossen zum ersten Mal Gegenstand eines historischen Prozesses sein. Ehemalige jüdische Flüchtlinge aus Österreich, Frankreich, Israel und der Schweiz, die Paul Grüninger ihr Leben verdanken, haben sich bereit erklärt, in den Zeugenstand zu treten und für einen Mann auszusagen, der noch kurz vor seinem Tode sagte: „Ich hätte es immer wieder so gemacht.“ Holger Reile

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