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Albanien am Tropf

Im „Land des Skipetaren“ ist der wirtschaftliche Aufschwung bislang ausgeblieben  ■ Aus Shkodär Thomas Machoczek

Seiner Frau hat Spartak nichts von dieser Fahrt erzählt. Er hatte Freunde abgeholt, die mit der Fähre angekommen waren, und um sie nicht allein den willkürlich aufgestellten Polizeisperren zu überlassen, hat er sie bis nach Shkodär gebracht. Jetzt muß er allein zurück. Niemand fährt die 150 Kilometer zwischen Albaniens Hauptstadt Tirana und der zweitgrößten Stadt im Norden, Shkodär, gern ohne Begleitung. Tagsüber sind es nur mit Steinen werfende Kinder und knietiefe Schlaglöcher, die jede Fahrt zum Nervenkrieg machen. Das größere Übel lauert nachts, wenn unvermittelt Felsbrocken den Weg versperren. „Bloß nicht anhalten“, warnt Spartak.

Fünf Jahre nach dem Abschied vom Kommunismus zählt in Albanien Wegelagerei zu den neuen Plagen der jungen Demokratie. Dabei gehört der Zahnarzt aus Tirana eher zu den kleineren Beutefischen, auf die es die Räuber abgesehen haben. Die größeren sind jene mit Öl oder Benzin beladenen Lastwagen, die im Dunkeln fahren, weil sie unentdeckt bleiben müssen. Um sich vor Überfällen zu schützen, rollen die Lkw meist in Konvois gen Norden, der Grenze nach Montenegro entgegen. Ihr Ziel ist der Shkodär-See, dessen nördliches Ufer schon zu Restjugoslawien gehört. Hier wird ihre Fracht in Fässer umgefüllt, um zu Flößen vertäut oder auf Kähnen das mittlerweile gelockerte UN- Embargo zu umschiffen.

Die Situation, in der sich Albanien bei der Wende vom Kommunismus des Enver-Hodscha-Nachfolgers Ramiz Alia zur Marktwirtschaft befand, ist im gesamten ehemaligen Ostblock einmalig. Als einziger Staat hatte das Land nach dem Einmarsch der russischen Truppen in Prag seine Mitgliedschaft im Warschauer Pakt gekündigt. In den siebziger Jahren zerbrach auch noch die Freundschaft mit China. Das Land der Skipetaren wurde zum einsamsten Flecken Europas.

Shkodärs Bürgermeister Filip Guraziu weiß sehr wohl, daß derzeit viele den Ausweg aus der Isolation ausgerechnet in der Schmuggelei sehen. Das sei aber immer noch besser als die große Nahrungsmittelknappheit, die er bei seinem Amtsantritt vor drei Jahren erlebte. „Wir wußten damals nicht, wie wir die nächste Woche überstehen sollten“, erinnert er sich. Viel lieber spricht er deshalb von der Zukunft. Den See sollen einmal Touristen bevölkern, die vom Ufer aus das prächtige Panorama der albanischen Alpen bewundern können. Kaum zwei Dutzend Kilometer weiter im Westen liegt die Adria-Küste, die Stadt selbst hat viel Historie zu bieten. Doch bislang bleibt das Wirtschaftswunder aus.

Verwundert ist Filip Guraziu darüber nicht. Noch ist die einzige Verbindung zwischen Shkodär und dem Zentrum Tirana jene marode Straße, die von Räubern heimgesucht wird. Wollten sich dennoch ausländische Firmen ansiedeln, könnte die Gemeinde nicht einmal mit günstigem Baugrund locken, denn die meisten Grundstücke gehören unverändert dem Staat. Telefone gibt es wenige, Fax-Verbindungen laufen zeitraubend über Tirana ins Ausland. „Wir helfen, wo es geht, mit Kontakten und Unterbringung“, sagt Guraziu. Das größte Problem kann er allerdings nicht aus der Welt räumen: Seine Gemeinde hat kein Geld. Bislang ist es den Kommunen in Albanien untersagt, eigene Steuern zu erheben. Das Budget, das ihnen der Staat zuweist, ist kläglich. Seinen Bürgern hat Guraziu deshalb kaum Unterstützung zu bieten. „Unsere Bedingungen sind sehr schlecht“, sagt Infusionsschwester Valbona Dusnaj, die im Bezirkskrankenhaus von Shkodär arbeitet. Das Sterilisationsgerät arbeitet schon lange nicht mehr. Statt dessen wird Wasser auf einer Heizwendel erhitzt, um damit die Instrumente zu reinigen. Für 75 Patienten gibt es nur eine Dusche. Im Winter, wenn die vielen Tuberkulose-Kranken aus den Bergen kommen, bringen sie ihr eigenes Bettzeug mit. Chemische Untersuchungen sind nahezu unmöglich, es fehlt an allem. Die Reagenzgläser schimmern trüb, Filter werden aus Schreibpapier gefaltet.

„Die Hilfe, die wir bekommen, orientiert sich an westlichen Standards“, sagt Gazmend Trashani, Leiter des Klinik-Labors. Italiener und Franzosen haben Geräte zur Blutanalyse und Echo-Kardiographen gespendet. Doch die Technik steht ungenutzt herum, weil sie niemand bedienen kann oder weil sie im Dauerbetrieb vor den ständig wechselnden Stromspannungen kapituliert hat.

Selbst im Hafen von Durräs, wo sich vor Jahren dramatische Fluchtszenen auf überfüllten Fähren abspielten und wo heute ein Großteil der Einfuhren des Landes abgewickelt wird, spiegelt sich der staatliche Bankrott. Noch vor einem halben Jahr, erinnert sich ein Fahrer, saßen die Zöllner unter Sonnenschirmen und erteilten den Transit-Stempel für die Lkw auf Klapptischen. Heute haben sie immerhin ein eigenes Büro. Untergebracht ist es in zwei Containern, ein paar unförmige Aktenschränke stehen darin, alte Schreibtische und Sofas, aus denen die Polsterung quillt. Telefon oder Fax-Geräte fehlen zwar immer noch, aber dafür haben die Zöllner Zeit. Nicht selten warten Lkw-Fahrer 24 Stunden im leeren Zollbezirk, ehe ihre Unterlagen anerkannt werden. Wie sich die Abfertigung beschleunigen läßt, ist bekannt: eine Hundert-Dollar-Note zwischen Frachtbrief und Transit-Erklärung wirkt Wunder.

„Vor fünf Jahren haben viele gedacht, jetzt kommen die Investoren und machen hieraus eine zweite Schweiz“, erzählt Spartak, der Zahnarzt aus Tirana. Aber die Investoren blieben aus. Einzig Coca-Cola schuf mit einer Abfüllanlage südlich von Tirana ein paar Dutzend Arbeitsplätze. Alle übrigen Konsumgüter werden eingeführt: Zigaretten aus Amerika, Speiseeis aus Griechenland, selbst das Trinkwasser kommt mit der Fähre aus Italien. Sogar Grundnahrungsmittel werden importiert, seit die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften zerschlagen sind. Dabei liegen inmitten der Berge und Seen zahlreiche fruchtbare Ebenen und Täler, und ein halbwegs intaktes Bewässerungssystem gehörte vor fünf Jahren zu den wenigen wertvollen Hinterlassenschaften der zentralistischen Zeit. Doch nach der Privatisierung und der Aufteilung in Parzellen hat kaum einer der Kleinbauern das Geld, um sich Maschinen für die Bewirtschaftung auszuleihen oder Reparaturen zu bezahlen.

Die deutsche Entwicklungspolitik hat daher ihren Schwerpunkt von der Förderung des Rohstoffsektors auf die Unterstützung der Landwirtschaft verlagert. Knapp 100 Millionen Mark sind bislang von Deutschland nach Albanien geflossen, weitere 140 Millionen wurden zugesagt. Ähnliche Programme wurden auch von der Weltbank und der EU eingeleitet.

Rings um den Skanderbeg-Platz im Herzen Tiranas bietet sich indes ein verwirrendes Bild. Über Nacht schießen Cafés aus dem Boden, die westlichen Standard bieten. Wer seine Tage nicht hier absitzt, scheint irgend etwas anzubieten: Reifen, Autowäsche, Motorenöl. Wer es geschafft hat, bei einer auf knapp 40 Prozent geschätzten Arbeitslosigkeit seine Stelle zu behalten und ein wenig Geld zu machen, findet in einem alten Mercedes das perfekte Statussymbol, denn bis zur politischen Wende waren Privatautos verboten. Der breiten Masse müssen allerdings die Satelliten-Schüsseln reichen, die zu Dutzenden an den Wänden der unverputzten Wohnquader hängen.

Etwa 50 Dollar verdient ein Chirurg im Monat und gehört damit noch zu den Privilegierten. Bestimmen zu können, wer wann behandelt wird, garantiert einen guten Nebenverdienst. Der Zahnarzt aus Tirana kommt sogar auf gut 300 Dollar im Monat. Laut Schätzungen der Weltbank liegt derzeit der Durchschnittsverdienst in Albanien bei rund 330 Dollar im Jahr.

Wie läßt sich davon leben, wenn in den letzten Jahren die Preise für Grundnahrungsmittel, weit schneller als die Löhne, um das zehn- bis zwanzigfache gestiegen sind? „Jeder handelt mit irgendwas“, sagt Spartak. Der Schwarzmarkt blüht, und fast in jeder Familie gibt es einen Verwandten, der im Ausland arbeitet und Geld schickt. Rund eine halbe Millionen Albaner soll seit der Wende ausgewandert sein.

Die wahre Armut der Albaner gründet daher nicht auf dem Fehlen von Supermärkten und Boutiquen. Während andere Länder, die wie Albanien der „Dritten Welt“ zugerechnet werden, Rückhalt in Religion, Tradition oder nationalistischem Gehabe suchen, hat in all dieser Hinsicht Albanien wenig zu bieten. Laut Statistik sind zwei Drittel der Bevölkerung Muslime, rund 20 Prozent Griechisch- Orthodoxe, 10 Prozent machen römisch-katholische Christen aus. Doch vier Jahrzehnte Atheismus haben den Glauben nur bei den Alten überleben lassen. Er ist daher ebenfalls zu einem der großen Import-Güter geworden. Aus Triest kommen Norweger, um zu missionieren, wie sie sagen. Eine schottische Hilfsorganisation führt auf ihrer Spendenliste auch kistenweise Bibeln. Die Moschee, die zu Beginn dieses Jahres in Shkodär entstand, haben Türken gebaut, auf Kredit.

Daß bei aller Knappheit ausgerechnet für Parteivillen Geld vorhanden zu sein scheint, trägt wenig dazu bei, das Vertrauen der Albaner in ihren Staat zu stützen. Gut bewacht hinter Bäumen säumen sie den Strand bei Durräs. „Die kommunistischen Bauten stehen dahinten“, erklärt Spartak im Vorüberfahren. „Hier vorne stehen die Villen der Demokratischen Partei. Die sind noch schöner geworden“, sagt er mit bitterer Stimme. Nur wenige hundert Meter entfernt hat eine Familie einen der leerstehenden Bunker besiedelt, von denen es in Albanien an die 700.000 gibt. Eine Wohnung ist für sie zu teuer.

Kein Wunder also, daß die junge Demokratie auf wackligen Beinen steht. Präsident Sali Berisha, dessen Demokratische Partei 1992 mit einer Zweidrittelmehrheit die Regierung antrat, hat viel von ihrem Rückhalt im Volk verloren. Jeder Albaner kennt Berisha noch als einstigen Vertrauten des langjährigen kommunistischen Herrschers Enver Hodscha. Und Berishas Erfolge sind bescheiden. „Die Hälfte der Leute setzt wieder auf die Sozialisten“, sagt ein privat angestellter Wachmann, der im Hafen von Durräs seinen Dienst tut. Schon nach den nächsten Wahlen im Mai des kommenden Jahres könnten die Karten in der Politik neu gemischt sein: „Und dann?“ Eine stumme, abwertende Handbewegung ist die Antwort.

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