Gaddafi-Gegner erstochen

■ Libysche Führung will nach Mord in London bei Aufklärung behilflich sein

Berlin (taz) – Ein libyscher Oppositioneller ist am Sonntag in London erstochen aufgefunden worden. Wie Scotland Yard gestern mitteilte, wurde Ali Mehmed Abu Seid in seinem Einzelhandelsgeschäft im Westen der britischen Hauptstadt gefunden. Konkrete Hinweise auf eine politisch motivierte Tat gebe es nicht. Die Täter hätten jedoch nichts aus dem Laden gestohlen. „Wir schließen im Moment keine Hypothese aus“, hieß es von der Polizei. Libyen beantragte laut der staatlichen Nachrichtenagentur JANA bei den britischen Behörden, an der Aufklärung der Tat mitwirken zu dürfen.

Abu Seid war nach dem Absitzen einer 20monatigen Haftstrafe wegen oppositioneller Aktivitäten 1975 nach Großbritannien geflohen. Laut BBC spielte der 55jährige 1981 eine tragende Rolle bei der Gründung der oppositionellen „Libyschen Nationalen Heilsfront“ (NFSL). Im Frühjahr 1984 soll er bei einem gescheiterten Attentatsversuch auf Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi in Tripolis beteiligt gewesen sein.

Die 1981 im Sudan gegründete NFSL ist die wichtigste libysche Oppositionsbewegung. Ihr erklärtes Ziel ist der Sturz des „autokratischen und anarchischen Regimes Muammar al-Gaddafis durch den Kampf mit allen Mitteln“. Zu diesem Zweck legte sie sich mit den „Rettungsstreitkräften“ einen bewaffneten Arm zu. Die NFSL vereint vergleichsweise viele Strömungen der libyschen Opposition, darunter auch die Muslimbrüder. Die libysche Führung diffamiert die Organisation daher zumeist als „Organ der Muslimbruderschaft“. Die NFSL tritt bewußt islamisch auf, unterhält aber auch gute Kontakte in die USA und nach Großbritannien.

1984 unterstützten nach Libyen eingeschleuste NFSL-Aktivisten Studenten, die an der Universität von Tripolis gegen Gaddafi aufbegehrten. NFSL-Anhänger attackierten Symbole des „Volksmassenstaates“ wie Volkssupermärkte und Fabriken. Die libysche Führung ließ mehrere protestierende Studenten und Aktivisten der NFSL hinrichten. Ein mit schweren Waffen ausgestattes NFSL- Kommando wurde in einer Wohnung in Tripolis gestellt. Nach offizieller libyscher Darstellung hatten sie einen Angriff auf den damaligen Wohnsitz Gaddafis, eine Kaserne, geplant. Der Vorfall bot den Anlaß für mehrmonatige umfangreiche Säuberungsaktionen. Gaddafi schickte seine Geheimdienstler rund um die Welt, zur Jagd auf Oppositionelle. Im Sommer dieses Jahres regte sich in Libyen nach Jahren der relativen Ruhe wieder islamischer Widerstand. Im September soll ein Attentat auf Gaddafi knapp gescheitert sein. Thomas Dreger