Ein See stürzt sich jäh in seinen Tod

Das Kaspische Meer steigt rasant und überflutet Kombinate, Raffinerien und Deponien mit Atommüll – die Weltbank sucht Geldgeber für ein milliardenschweres Hilfsprogramm  ■ Von Reiner Metzger

Berlin (taz) – „Wir brauchen noch drei Jahre, um die Kosten für eine Sanierung des Kaspischen Meers abzuschätzen“, sagt Henri Dumont, Professor für Ökologie an der Universität von Gent. Er arbeitet im Auftrag der Global Environmental Facility. In den nächsten Monaten will die Weltbank und einige UNO-Organisationen Geldgeber für die Milliardensanierung finden. Dumont hofft, daß die Zeit noch reicht, um die einzigartige Tier- und Pflanzenwelt zu retten. Der Bestand an Kaviar-Stör hat in den letzten zehn Jahren um neunzig Prozent abgenommen.

Das Kaspische Meer ist eine der Rohstoffquellen Asiens. Unter dem See lagern riesige Vorräte an Öl und Gas. Für die Ausbeute muß ein Förderort jedoch berechenbar sein, und genau das ist das Kaspische Meer nicht: Der Wasserstand verändert sich aus unbekannten Gründen rasant. Die Spekulationen reichen von Veränderungen der Niederschläge im Einzugsbereich des Zuflusses Wolga bis zu Verschiebungen der Erdplatten unter dem Meer.

Der Pegelstand des Binnenmeeres hat schon am Weltbild sowjetischer Ingenieure gerüttelt: Er wollte sich einfach nicht regulieren lassen. Ab 1930 begann er zu fallen. Als Erklärung mußte die Kaskade von riesigen Kraftwerken und Stauseen herhalten, die Stalin an der Wolga errichten ließ. Das klingt auf den ersten Blick plausibel – immerhin stammen 70 bis 80 Prozent der jährlich 350 Kubikkilometer Süßwasser im Becken aus Europas größtem Fluß. Doch das Wasser sank schon, als die Staudämme noch im Bau waren.

Ende der zwanziger Jahre stand das Meer durchschnittlich bei 126 Meter unter null, 1977 war der Tiefststand mit minus 129 Meter erreicht. Schon dieser Rückgang reichte, um 10 Prozent der Seefläche trockenzulegen. Jetzt liegt er wieder bei 126,5 Metern und steigt weiter. Einzig Wissenschaftler, die alte Aufzeichnungen studierten, berichteten von regelmäßigen Wasserstandsänderungen im Laufe der Geschichte. „Die Völker am Rand des Meeres hielten früher Tabus ein und siedelten nur in gewisser Entfernung von der Küste“, sagt Henri Dumont. Doch die Planer des Sowjetstaates hörten nicht auf alte Weisheiten. Der Ring von Siedlungen für die Fischer und Ölarbeiter wanderte dem Wasser nach, das Geld für eine nötige Umsiedlung fehlt.

Noch schlimmere Auswirkungen dürfte der drohende biologische Tod des Sees für die AnwohnerInnen sein. So wurden Metallhütten-Kombinate und Ölförderanlagen bei der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku immer weiter in den See hineingebaut. Dabei kam es immer wieder zu Unfällen, die Gegend ist übersäht mit ölgefüllten Seen und Senken hinter der Küste. Nun schluckt der See diese Öllachen, Flora und Fauna ersticken.

Dem Verzeichnis nuklearer Katastrophen könnte darüber hinaus bald ein weiteres Kapitel anzufügen sein: Bei Aktau an der Ostküste läuft das Atomkraftwerk Gurevskaja. Es steht derzeit laut Dumont nur noch sieben Meter über dem Meeresspiegel. Und die radioaktiven Abfälle flossen in Sowjetzeiten einfach in eine tieferliegende Senke hinter dem AKW – jetzt droht die Wasserspülung für das Atomklo. Wenn das passiert ist es auch zu Ende mit Plänen, die den Öko-Tourismus in den herrlichen Wäldern und Steppen um den See herum ankurbeln wollen.