: Bis zu den äußersten Grenzen gehen
■ Ein Jahr lang blieb sein Film "Les Sabots en Or" verboten: Der tunesische Filmregisseur Nouri Bouzid über sein "Kino des Körpers", die Arbeit der Zensoren und die unterschiedliche Situation der Intellekt
Seit den Dreharbeiten 1988 zu „Les Sabots en Or“ ist vieles geschehen, das diesen Film heute noch wichtiger macht, als er damals schon war: Es geht darin um einen arabischen Intellektuellen, der zwischen dem repressiven Regime und dem islamischen Fundamentalismus gefangen ist. Und es geht um eine Regierung, die alle denkenden Menschen unterdrückt und nur diejenigen hochkommen läßt, die nicht mehr denken.
Ich habe das Drehbuch 1986/87 geschrieben, weil ich Angst hatte. Ich hatte das Gefühl, daß es in unserer Gesellschaft keinen Platz mehr für Intellektuelle gibt. Arabische Intellektuelle haben versagt. Von der permanenten Repression und Rückschlägen entmutigt, unter Druck von neuen Kräften und im Bewußtsein ihres eigenen Versagens, ihrer Impotenz, haben sie Selbstmord begangen.
Die Abbildung des Körpers als Prüfstein
In gewissem Sinne war der Film prophetisch. Aber glücklicherweise ist weder in Tunesien noch in Marokko das Schlimmste eingetreten. Wir sind im letzten Moment vor dem Abgrund zurückgeschreckt. Doch in Algerien ist es zur Katastrophe gekommen. Was da passiert, sollte jeden, der sich mit politischen Ideen und sozialen Bewegungen im Maghreb beschäftigt, zur Besinnung bringen. Intellektuelle werden umgebracht. Wie konnte es passieren, daß ein Land mit solcher intellektuellen Elite wie Algerien so in Ignoranz und Obskurantismus versinkt?
„Les Sabots en Or“ hat so etwas mehr oder weniger vorausgesehen, aber – anders als es immer dargestellt wird – besteht die Konfrontation in dem Film nicht zwischen Regierung und Fundamentalisten, sondern zwischen Fundamentalisten und Linken. Das ist neu und subversiv: die Konfrontation zwischen zwei rivalisierenden Weltanschauungen, zwischen Fortschrittsglauben und Aberglauben.
Tunesien hat bis zu einem bestimmten Punkt seine sozialen Probleme wie Familienplanung, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, öffentlicher Verkehr, Wasser- und Lebensmittelversorgung gelöst. In Algerien sind diese Probleme bis heute akut. Die Politik der Arabisierung war ein schwerer Rückschlag: Schulen und Universitäten wurden zur Brutstätte des Fundamentalismus, weil man die Lehrer aus Ägypten geholt hat – und Ägypten hat natürlich seine Muslimbrüder geschickt.
Die tunesischen Intellektuellen haben sich besser geschlagen als ihre algerischen Kollegen. Obwohl sie wenig Mittel zur Verfügung hatten, haben sie die Öffentlichkeit vor dem, was sich anbahnt, mutiger gewarnt. Jedenfalls gilt das für „Perspectives“ [eine linke Organisation, der Bouzid angehörte, d. Red.]. Vor kurzem habe ich Mersak Allouaches Film „Bab el Oued City“ gesehen. Ein wichtiger Film, aber er kommt zu spät. Man hätte ihn vor fünfzehn Jahren machen müssen. Man hat sich in Algerien auf die Meinungsfreiheit erst besonnen, als es schon zu spät war, als der Krebs sich schon tief in den Körper hineingefressen hatte. Und der Preis dafür wird jetzt in Menschenleben gezahlt – Algerier sterben nun an der „freien Meinungsäußerung“...
Wir ahnten, in welche Richtung das alles gehen würde, und haben es überall publiziert, auf den Bühnen, in den Kinos, im Fernsehen. Man warf uns vor, die Situation nur anzuheizen – aber wir haben nichts anderes als unseren Job gemacht: das Böse benennen, bevor es sich breitmachen konnte, über verschwiegene Dinge sprechen, Tabus brechen. Das gibt es weder in Algerien noch in Ägypten.
Die tunesischen Zensoren waren schockiert über die Folterszene in „Les Sabots en Or“ und auch über die Liebesszene; vor allem über den Körper – einmal zerstört von der Folter, das andere Mal in verzückter Liebe. Sie wollten dem Film für Tunesien keine Vertriebslizenz geben, jedenfalls nicht in ungekürzter Form. Sie wollten vierzehn Minuten rausschneiden, einschließlich der Schlüsselszene zwischen den beiden Brüdern, dem Intellektuellen und dem fundamentalistischen Schlachter. Das ist einer der stärksten Momente des Films, alleine dafür hätte ich den ganzen Film machen wollen. Es ist ein seltener Moment in einem arabischen Film, der bis heute die gesamte arabische Welt provoziert. Ich weigerte mich, den Film zu beschneiden, und er blieb ein Jahr lang verboten. Nach vielem Hin und Her kamen wir schließlich zu einem Kompromiß: nur drei Minuten würden rausgeschnitten. Und nach noch mehr Verhandeln wurden es sogar nur 35 Sekunden; 20 Sekunden aus der Folterszene und 15 aus der Liebesszene – aber nur für Tunesien. Das Negativ ist vollständig geblieben.
Ich wollte den Körper in beiden Situationen zeigen, einen Film machen, der die Grenzen der Zensur erweitert, Boden gewinnt und die Möglichkeiten der Meinungsfreiheit ausweitet. In der ganzen Welt ist mit das wichtigste Moment die Abbildung des Körpers. Für uns Araber ist das ja im Grunde nichts Neues, wir kennen es aus unserer Dichtung. „Tausendundeine Nacht“ ist doch unglaublich erotisch. Selbst im Koran sind die Körperbeschreibungen ziemlich deutlich. Dieser Bereich soll uns jetzt fremd werden: Einem nichtarabischen Paar dürfen wir beim Sex zusehen, aber arabische Körper, die sich lieben, dürfen wir nicht sehen. Darin liegt die Gefahr, daß man uns zu Voyeuren degradiert, die immer nur andere ansehen, nie sich selbst.
Film vernichtet: durch vernichtende Bilder
Den dramatischen Künsten muß der Körper in all seinen Aspekten zur Verfügung stehen. Ich wollte meinen Protagonisten, den Intellektuellen Jussuf Sultan, als körperliches Gegenüber einer Frau, eines weiblichen Körpers, zeigen und mich damit selbst von diesem Komplex befreien. Mich hat dieses Thema immer fasziniert. In „L'Homme de Cendres“ („Der Mann aus Asche“) wird der Körper verletzt. In „Les Sabots en Or“ wollte ich zeigen, daß der Intellektuelle, der versagt hat, seinen Körper als eine Last empfindet, daß der Körper, genau wie unter der Folter, die ganze Last des Dramas tragen muß. In „Bezness“ wird der Körper zum Gegenstand einer Perversion. Alles passiert nur durch den Körper. Er ist das letzte, was zum Verkauf übrig ist. Mufida Tlatlis „Les Silences du Palais“ arbeitet auf die gleiche Weise. Ein junges Mädchen entdeckt ihre ganzen Probleme gleichzeitig mit ihrem Körper, in der Pubertät also. Der Körper ist der Schlüssel zur Identität. Ich bin absolut für ein Kino des Körpers.
Natürlich will ich, was die Zensur betrifft, bis zu den äußersten Grenzen gehen. Aber kein Regisseur möchte wirklich gerne zensiert werden – und sein Produzent schon gar nicht. Wir haben den Film genauso gedreht, wie es im Drehbuch vorgesehen war. Der Ärger, den wir dann im nachhinein hatten, beweist vor allem, wieviel stärker ein Bild gegnüber dem geschriebenen Wort ist. Ich hatte wirklich keine besondere Lust auf diesen Ärger, aber wahrscheinlich bin ich in zwei Richtungen zugleich zu weit gegangen. Ich habe denen, die mich vernichten wollten – rechte Journalisten zum Beispiel –, ihre Chance auf dem Silbertablett serviert: Sie mußten nicht über die Folterszene sprechen, weil sie alle schon so über die Liebesszene in Wallung geraten konnten. Ich habe ihnen die Gelegenheit gegeben, sich moralisch aufs hohe Roß zu setzen ...
Alles in dem Film wird aus dem Blickwinkel des Protagonisten Sultan gezeigt. Die Zuschauer sehen von seiner Gegenwart und Vergangenheit nur, was er sieht, hört oder sich vorstellt. Da ist also dieser Mann, der innerhalb einer Nacht – der Aschura-Nacht – vergeblich nach einer Unterkunft sucht. Zehn Jahre ist er im Gefängnis gewesen und versucht nun, sein Leben wieder zusammenzuflicken, aber er entdeckt, daß nur noch Fragmente geblieben sind. Je mehr er versucht, sie wieder zusammenzufügen, desto mehr stößt er auf Dinge, die die Bruchstücke nur noch weiter auseinandertreiben. Bei dem Versuch, sich selbst wieder zusammenzusetzen, zerstört er. Der Film ist ähnlich strukturiert, er sammelt ein und vernichtet dann – durch vernichtende Bilder.
Ein Film gegen alle Ideologien
Die Aschura-Nacht ist die Nacht der Vergebung, der Gnade. In ihr wird die Rettung der Propheten gefeiert: Abraham vor dem Feuer, Noah vor der Sintflut, Jonas aus dem Bauch des Wals, Moses vor den Fluten des Roten Meers und Mohammeds Flucht vor dem sicheren Tod von Medina nach Mekka. Aber die Zeit der Rettungen und der Propheten ist vorbei. Sultan, der sich selbst als Prophet gesehen hat, wird nicht gerettet.
Aschura ist auch die Nacht, in der Hussein, der Enkel des Propheten, ermordet wurde. Deshalb gibt es in diesem Film soviel Blut. Man hat mich deshalb angegriffen, aber sehen Sie, was in Algerien los ist: Ströme von Blut. Sie erschießen ihre Gegner nicht nur, sie schneiden ihnen die Kehlen durch. Die Menschen werden von Blut terrorisiert.
Die breite Masse des tunesischen Publikums fand es schwer, dem Film zu folgen. Ich habe nichts zu mystifizieren versucht. Aber ich wollte auch zeigen, daß man diese Geschichte nur genauso erzählen kann. Man ist bei uns solche Bilderfluten oder so eine Erzählstruktur nicht gewöhnt. Aber zu meiner Überraschung sahen mehr Menschen diesen Film als „L'Homme de Cendres“: 350.000 Karten wurden verkauft.
Was mir noch besser gefiel, war die Tatsache, daß keine der im Film portraitierten Gruppen mit ihrem Bild zufrieden war: nicht die Linken, nicht die Fundamentalisten und am allerwenigstens die Regierung. Es ist ein Film über Politik, aber kein gewöhnlicher politischer Film, sondern ein persönliches Statement außerhalb der standardisierten politischen Sprache. Die Vorgehensweise mag nicht jedermanns Geschmack sein, aber es funktioniert. Für mich ist es das letzte Wort in der ästhetischen Darstellung einer Niederlage – nicht einer militärischen oder politischen Niederlage, sondern im Sinne der Auflösung eines Individuums, das seine Identität verliert, als ihm brutal klar wird, daß es zu nichts mehr taugt, daß es seinen Platz und seinen Status in der Gesellschaft verloren hat. Es hat einen hohen Preis gezahlt: für nichts, für die Hölle.
Das ist nicht autobiographisch. Ein bißchen von mir ist in jeder der Filmgestalten, aber das ist nicht mein Leben. Ich bin nicht tot. Ich bin sogar einigermaßen erfolgreich. Vielleicht ist es ein Film über das, was ich in mir zerstören mußte, um so erfolgreich zu sein. Vielleicht ist es sogar ein Film gegen mich. Ich spreche mein Publikum direkt an. Ich klage es an, aber man nimmmt es nicht persönlich. Ich war Mitglied der extremen Linken, aber für mein Publikum bin ich einfach ein subversiver Filmemacher, der früher mal links war. Am Anfang haben sie überhaupt nichts verstanden, aber nach ungefähr zwei Jahren haben sie meine Filme akzeptiert. Filme helfen ihnen, sich selbst zu verstehen und diese schwere Last aus Trauer, die wir mit uns herumschleppen. Entwürdigungen, Niederlagen und so viele zerstörte Träume haben uns zu Menschen gemacht, die mit Trauer geschlagen sind. Ich versuche, ihnen zu helfen, die Gründe dafür zu finden, und zwar durch Gefühle, nicht durch Moralisieren.
„Les Sabots en Or“ ist ein Film gegen alle Ideologie. Er ist erst jetzt rausgekommen, aber schon vor neun Jahren geschrieben worden, lange vor den Veränderungen in der Sowjetunion, und doch so sehr in der Stimmung von heute. Mein nächster Film wird sich mit der Welt der Frauen beschäftigen, und zwar aus einer weiblichen Perspektive, der unserer Frauen heute, die sich allen bekannten Klischees total entzieht. Der Film soll ihre Situation ausloten und die Schwierigkeiten, denen sie auf der Suche nach ihren Rechten und ihrer Würde begegnen, und zwar durch einen sehr nahen Blick auf zwei Frauen, von denen die eine geschieden ist. Das Drehbuch ist schon fertig. Ich hoffe, ich kann bald anfangen zu drehen.
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