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Festivals, Filme und Feuerwerk

Das alte Produktionssystem ist zerschlagen, viele russische Filme haben gegenüber den Westimporten keine Chance. Langsam etabliert sich nun aber eine neue Filmszene, die dem rasanten Niveauverlust entgegensteuert  ■ Von Nadeschda Pokornaja

Kurz vor meiner Moskaureise im September sah ich in Le Monde ein Foto, das die MosFilm Studios zeigte, und erschrak: Die einst berühmten Studios ähnelten Stalingrad nach dem letzten Bombardement. Als ich sie mir dann etwas später aber selbst anschaute, war nichts dergleichen zu sehen. MosFilm war einfach nur umgebaut worden, und aus einem einzigen Studio waren zehn unabhängige Studios geworden. Statt der 150 Filme pro Jahr, die MosFilm in den verschwenderischen sozialistischen Zeiten produzierte, dreht man heute dort nur noch höchstens 30, eine Zahl, die, wie alles heutzutage, vom freien Markt diktiert ist.

Keine der früheren Sowjetrepubliken kann heute mehr gezwungen werden, russische Filme in Moskau einzukaufen. Wie Moskau selbst gleicht MosFilm einer Mischung aus Trümmergrundstück und Baustelle – aber nur auf den ersten Blick. Wer öfter in Moskau ist, sieht, daß radikal alles in einem Umorganisierungsprozeß steckt. Da ist kaum verwunderlich, daß zur Zeit noch niemand sagen kann, wie die Aussichten für zukünftige Projekte sind.

Vor einigen Monaten lief das 19. Moskauer Filmfestival, ein Multi- Millionen-Dollar-Spektakel. Das Geld dafür war vom Premier Wiktor Tschernomyrdin persönlich aus dem Staatshaushalt abgezweigt worden – Geld, mit dem man besser ein paar gute Filme gedreht hätte. Während Feuerwerke den Moskauer Himmel verschönten, saßen die russischen Filmemacher da und zählten: das ist meine Vorproduktion, und das die Schneidezeit ... Gäste aus dem Westen wurden mit Kaviar und Champagner überschüttet und zu Dampferfahrten eingeladen.

Zwischen Westkrimis und Qualitätspornos

Das Unterhaltungsprogramm war phänomenal – einschließlich eines Gefängnisaufenthalts: Festivaldirektor Richard Gere saß eine Nacht im Gefängnis von Nishni Nowgorod, weil er 25 Kilo Kaviar auf dem Schwarzmarkt gekauft hatte. Sein Agent entschuldigte sich auf dem Festival dafür und versicherte dem Publikum, daß Mr. Gere kein Spekulant sei. Hysterischer Applaus.

Die Filmkritiker, die mir von dieser Episode berichteten, konnten ihren Sarkasmus kaum beherrschen, denn die Situation der Filmindustrie ist düster. „Früher hieß es immer ,Die Kunst gehört dem Volk!‘. Heute wissen wir auch ohne Spruchbänder, daß unsere kranke Kunst einem kranken Volk gehört ...“

Russische Kinos quellen über von westlichen Krimis und Softpornos. Für russische Filme hingegen wird weder geworben, noch finden sie einen Vertrieb. Eine soziologische Untersuchung förderte kürzlich zutage, daß die Kultur des Ins-Kino-Gehens nicht mehr wiederbelebt werden kann. Kinomanager vermieten ihre heruntergekommenen Kinosäle aus Profitgründen als Discos und Verkaufsräume für Westautos. Natürlich gibt es reichlich Probleme mit dem Vertrieb, aber offenbar verdienen die, die ihr Geschäft mit dem Vertrieb machen, viel Geld mit der „Blockade“ russischer Filme.

Andererseits gibt es Fälle wie Wladimir Menschkows Film „Shirly Myrli“, der, von MosFilm und RosKomKino gemeinschaftlich finanziert, sieben Millionen Dollar kostete – genug, um sechs Filme mit Normalbudgets zu produzieren. Der Film wurde sehr gut beworben und vertrieben – und populärer als all die amerikanischen Krimis.

Der Staat sponsert seine Lieblinge auch weiterhin. „To love à la Russe“ von Eugeny Matujev entstand ausschließlich aus Mitteln des Finanzministeriums. Auf dem 19. Filmfestival appellierte der russische Staatssekretär für Kinofragen an das russische Volk, Geld für eine Fortsetzung zu spenden: „Macht den ersten echten Film des Volkes!“

Woraufhin meine Freundin Olga, eine Filmkritikerin, kommentierte: „Mir tut wirklich jeder leid, der diesen Film noch nicht gesehen hat. Er ist inzwischen mein Lieblingsfilm. Ich dachte immer, daß der Höhepunkt an Idiotie schon längst erreicht wäre, aber da lag ich offenbar falsch. Großartiger Film! Noch nie gab es so gute Qualitätspornographie. Wenn der Regisseur einen nackten Hintern filmt, macht er das so, daß kein Mensch je wieder einen anderen Hintern wird angucken wollen. Und mit welchem Sachverstand der Protagonist seinem weiblichen Gegenpart an die Wäsche geht! Danach will man nie mehr was mit Sex zu tun haben ...“

Während meines – nur achttägigen – Besuchs konnte ich die beschleunigte Politisierung von Filmemachern beobachten, die einer nach dem anderen im Fernsehen oder im Radio auftauchten. Viele berühmte Regisseure und Schauspieler haben sich vor den anstehenden Wahlen eilig der einen oder anderen Partei oder politischen Gruppierung angeschlossen, als ob jemand den Schlachtruf „Der Platz des Künstlers ist im Staatsrat“ ausgegeben hätte. Politiker haben Künstler immer schon ausgebeutet. Manche mögen ja wirklich glauben, daß Kultur die Welt retten wird, andere werden mit der Aufmerksamkeit, die ihnen ein berühmter Name garantiert, schon zufrieden sein.

In den letzten zwei Jahren haben sich die Themen der Filme verändert. Die Ära des pornographischen und düster-schweren Films geht zu Ende, der neueste Schrei ist das russische Melodram. Paola Wolkowa, Tutorin der Höheren Schule für Regie und Drehbuch, sieht es so: „Das Pendel schlägt jetzt in die andere Richtung aus. Das Alte war nur noch Masche, jetzt kommt die Reaktion.“

Neuer Trend zur Literaturverfilmung

Wolkowa hat recht. Fünf Jahre haben wir allen möglichen Dreck über uns erfahren, und der ist auf die Leinwände geschwappt und – gelegentlich – auch wieder zurück. Von der freien postsowjetischen Leinwand stieg Frankensteins Monster in den Alltag herab. Am Anfang hat es alle Leute mächtig erschreckt, dann ging es einem bloß noch auf die Nerven, wie eine lästige Fliege. Heute vergessen die Leute es meistens. Spielfilme mit Gewaltszenen haben ihre Attraktion für Filmemacher wie für das Publikum verloren.

Nur Frankensteins Braut geistert, halbnackt natürlich, vorzugsweise noch in den neuerdings in Mode gekommenen erotischen Melodramen herum. Aber aus irgendeinem Grund muß sie immer ihr Gesicht verstecken, wie zum Beispiel in Swetlana Iljinskajas „Die maskierte Sünderin“, einer Koproduktion von amerikanischen und deutschen Drehbuchschreibern. Darin geht es um eine einstmals schöne Schauspielerin, deren Gesicht durch einen Autounfall schrecklich entstellt ist. Da sie sich keine plastische Chirurgie leisten kann, arbeitet sie in einer Sexshow und verbirgt ihr Gesicht hinter einem Schleier. Angeblich geht es ihr nicht so sehr ums Geld als darum, zu beweisen, daß sie begabt ist und sich ihr Gesicht zurückerobern kann – offenbar durch Entblößung ihres Hinterteils. Die Filmwerbung behauptet, daß dieses „packende“ Werk von den Vertriebsfirmen begeistert aufgenommen wird.

Gerechterweise sollte ich erwähnen, daß es auch andere Filme gibt und daß ihre Zahl zunimmt. Viele Regisseure haben sich klassischen Stoffen zugewandt: Roman Balayan Turgenjews „Erste Liebe“, Wladimir Dostal Solugubs „Kleiner Teufel“, Alexej Sakharov Puschkins „Eine junge Bauersfrau“ und mehrere Regisseure haben sich von Tschechow inspirieren lassen. Zu Zeiten der Diktatur machte man phantastisches Kino, um den ekelerregenden Klischees des Sozialistischen Realismus zu entgehen. Heute haben Filmemacher die Pseudo-Demokratie über. Und außerdem müssen sie keine privaten Sponsoren suchen, denn für Puschkin gibt es staatliche Gelder.

Die „neuen“ Russen in Filmen „neuer“ Russen

In den letzten zwei Jahren sind auch Filme über die neuen Russen von den neuen Russen – und des öfteren von der neuen, rechtslastigen Bourgeoisie finanziert – auf dem russischen Markt aufgetaucht. Sie portraitieren Leute, bzw. eine ganz bestimmte Art von Leuten, die das Wesen der neuen Zeit verkörpern.

Dazu gehören Denis Jewstignjews „Limita“ und Valery Todorowskys „Moscow Suburban Nights“ von 1995. Sie haben die Kritik gespalten. Um mehr und direkter zu erfahren, worum es eigentlich geht, besuchte ich Todorowsky und fragte ihn nach den Folgen der Aufhebung staatlicher Zensur und den heutigen Problemen von Regisseuren. Er sagte mir folgendes:

„Zuerst war die Freiheit ein Segen, aber jetzt ist sie zu einem Problem geworden, man hat Angst vor ihr bekommen und weiß nicht mehr, welche Stoffe man wählen soll, welches Genre, wie man an Geld kommt und wie man den Film finanziert. Dabei haben sich die Filmemacher in zwei Gruppierungen aufgeteilt: die Konkurrenzfähigen und die Nichtkonkurrenzfähigen. Auch die Zuschauer haben ja jetzt die Freiheit, zu sehen, was sie wollen. Und die Vertriebe kümmern sich nur um das, was Profit bringt. Aufgrund all dieser Probleme drohte der russischen Filmindustrie die Puste auszugehen. Inzwischen hat sie sich wieder erholt. Und zwar vor allem, weil etwas ganz Neues auf der Bildfläche erschienen ist: Produzenten. Die haben uns beigebracht, wie man auf dem freien Markt überleben kann.

Es gibt natürlich immer noch Opfer, aber andere haben gewonnen – ich selbst zum Beispiel. Ich habe akzeptiert, daß es nötig ist, sich neben den schöpferischen auch mit Finanzierungsfragen zu beschäftigen. Das ist einfach Teil der Arbeit und keine Tragödie. Die Abschaffung der staatlichen Zensur ging ja auch mit der Freiheit zu reisen einher, und wir sind mehr und mehr ins westliche Ausland gereist, vor allem auch zu Festivals. Wo immer ich hinkam, gewann ich innerhalb der Szene auch neue Freunde.

Natürlich ist der freie Markt auch traumatisch. Viele früher erfolgreiche Regisseure sind an den Rand gedrängt worden, Stars des Kinos der siebziger Jahre, Leute wie Eldar Ryzanov, Vitaly Melnikow, Igor Maslennikow und Semjon Aranowitsch. Andererseits, Nikita Michalkow konnte weiterarbeiten, und das ziemlich erfolgreich. Der Oskar für seinen Film ,Burnt by the Sun‘ (,Die Sonne, die uns täuscht‘) ist doch immerhin ein Sieg. Besonders schwer ist es derzeit für die junge Generation, die noch keiner kennt. Anfänger müssen kleine Billigfilme machen, in denen sie ihr Talent zeigen, der Film muß Aufsehen erregen, dann hält man sie vielleicht für kreditwürdig. Um zu überleben, muß man pro Jahr einen Film drehen. Allein der Kameramann kostet bis zu 20.000 Dollar, die Miete von Geräten 5.000 bis 6.000 Dollar.

1992 habe ich ,Liebe‘ gedreht, der hat 900.000 Rubel gekostet; ,Moskau Suburban Nights‘ kostete 1994 schon fünf Millionen Dollar. Das französische Film-Aid-Institut hat ihn finanziert. Ich habe beruflich wirklich sehr großes Glück gehabt. Ich habe in diesem neuen Krieg des Geldes bisher überlebt.“

In einem Interview mit der Monatszeitschrift Kino-glaz (Kino- Auge) sprach in diesem Jahr auch der Regisseur Sergei Solowjew, Vorsitzender der Filmemachergewerkschaft Rußlands, über diese neue Welt.

„Mit dem Zusammenbruch der UdSSR ist auch das soziale System, das praktisch jedem, der einen Abschluß hatte, auch einen Arbeitsplatz garantierte, zusammengebrochen. In den letzten Jahren ist die Produktion von Filmen sehr eingeschränkt worden, Arbeitslosigkeit droht, und man hat die Standards gesenkt: wer Geld hatte, machte seinen Film. Im Moment haben wir die Krise der Filmindustrie einigermaßen überwunden, vor allem auch durch den Fortbestand der Filmemacher-Gewerkschaft. Heute werden in Rußland jährlich ungefähr 100 Spielfilme gedreht, davon sind 90 Prozent weiterhin vom Staat finanziert (aus von privaten Sponsoren zur Verfügung gestellten Fonds). Von diesen 100 Filmen sind vielleicht zwei oder drei wirklich sehr gut, zehn so einigermaßen. Früher entsprachen die Massenproduktionen dem Geschmack von Parteifunktionären, jetzt rennen sie dem vulgärsten Durchschnittsgeschmack hinterher.

Die Zensur der Vergangenheit ist tot, aber manchmal ist nicht ganz klar, was schlimmer ist. Die Ekelhaftigkeit unserer Filme hat echt Weltniveau. Der Geschmack der Geldgeber wird zum Kriterium des Films. Unser Kino hatte mit Profiten, wie Hollywood sie kennt, nie etwas zu tun. Kulturelle Werte waren immer wichtiger. Andrej Tarkowsky hat gesagt, daß Film die höchste Form der Poesie sei. Das Imperium ist Vergangenheit, und politisch sind wir heute zutiefst gespalten. Ein Kino, das wirklich Kunst zu sein versucht, sollte uns einen.“

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