: Die Poesie des Gerichtsprotokolls
Seriöses Thema, bizarre Details – Ein sachlicher Blick in den großen „Atlas der gerichtlichen Medizin“ ■ Von Olaf Ulrich
In der Buchhandlung, auf die man sieht, wenn man im ersten Stock der Hauptmensa einen Fensterplatz bekommt, und wo ich gerne stöbere, wenn das Geld nicht für ein Dessert reicht, steht das teuerste Buch von allen, die ich jemals gelesen habe. Ich würde es mir nicht einmal kaufen, wenn ich das Geld dazu hätte, weil ich nicht weiß, wie ich es auf Dauer sicher vor meinem Sohn verstecken könnte. Das Thema ist absolut seriös, aber die Details sind ein wenig bizarr. Ein Kapitel heißt „Transvestitismus und tödliche Unglücksfälle bei autoerotischer Betätigung“. Ein anderes kündigt „Eisenbahnüberfahrungen“ an.
Der 1963 vom Verlag Volk und Gesundheit herausgegebene, 1992 in dritter Auflage bei Ullstein Mosby in Berlin erschienene „Atlas der gerichtlichen Medizin“ von Prokop und Radam umfaßt 771 Seiten mit „1.660 Einzeldarstellungen und zahlreichen tabellarischen Übersichten“. Für 585 Mark Bilder von Leichen, nackt oder bekleidet, komplett oder in Teilen, immer in Schwarzweiß und auf abwaschbarem Glanzpapier.
Warum sollte man sich freiwillig solche Bildbände antun? Zweihundert Meter weiter gibt es im modernen Antiquariat schwere Hrdlicka-Schmöker, zierliche Kataloge mit japanischen Blechrobotern der 60er und Impressionismus satt.
Es sind die Kriminalgeschichten aus dem Lokalteil der Zeitungen. Zum Beispiel wenn an der Havel in der Nähe einer Autobahnbrücke erst 38 Leichenteile angeschwemmt werden, später erhöht sich die Zahl auf 40, schließlich sind es 47, wenn ich mich richtig erinnere, gezählt von einem privilegiert gelegenen Ausflugslokal aus. Insgesamt gab es vielleicht drei, vier mittlere bis kleine Meldungen. Von einer Auflösung des tragischen Ereignisses weiß ich bis heute nichts, obwohl auch das wenig änderte. Wer nicht die erforderliche Zeit und Geduld für die öffentlichen Verhandlungen im Moabiter Gericht aufbringt, ist darauf angewiesen, sich die Ereignisse privat zu illustrieren.
Im vorliegenden Fall kommen die Kapitel „Ertrinken und Tod im Wasser“ (S. 161-184) und „Leichenbeseitigung und Leichenzerstückelung“ (S. 639-680) zur Anwendung, dann, je nach Obduktionsergebnis, beispielsweise „Erstickung und Strangulation“ (S. 89- 160) oder „Vergiftungen“ (S. 681- 726). Weniger ergiebig, aber auch unwahrscheinlich ist die „Selbstbeschädigung“ (S. 727-730).
Das Grundthema in der Einleitung ist allerdings die Gleichförmigkeit bei Taten und Tatumständen. Das Spektakuläre wird dem erfahrenen Gerichtsmediziner zur Routine. Der Einleitung vorangestellt ist das Motto „nihil novi sub sole“, und mit stellenweise etwas gelangweilten Gesten führen die Autoren ihr Material vor. Blättern wir mal ein wenig.
„Abb. 92a bis d Madenkriechspuren“ im Kapitel „Besondere Leichenstellungen“. „Abb. 94a und b Besondere Leichenstellung mit Genu recurvatum: Der stehende Tote hatte in der Hand ein Zweifrankenstück, was zu Diskussionen Anlaß gab.“ „Abb. 335a und b Mord durch Scherenstiche (Familientragödie).“ „Abb. 483a und b Selbstmord durch Eisenbahnüberfahrung; eigenartige Lage des Unterkörpers.“ „Abb. 469: Selbstmord durch Eisenbahnüberfahrung; beim Überfahren Schuhe verloren.“ „Abb. 565: Aus Scherz erschossen; relativer Nahschuß.“ „Abb. 588 Selbsttötung des 19jährigen Bergmanns durch Zündung einer Sprengkapsel im Mund.“
Für einen versöhnlichen Ausklang nach all dem Elend sorgt das Thema „Aberglaube“, unter anderem mit nadelgespickten Tierherzen und Anekdoten von Liebeszaubern, abgeschlossen durch die „Auffindungssituation des Hellsehers Hanussen“.
Bilder und wohl auch Beschreibungen stammen nicht nur aus DDR und BRD, sondern reichen über die Nazizeit zurück bis in die 20er Jahre. Die Art der Zusammenstellung suggeriert Kontinuität. So wird dem Fachpublikum zwischen Lustmorden und Kindstötungen die Spezies der Transvestiten vorgeführt. Typisch ist der säuerliche Kommentar zu einem Fall von sogenanntem „echten Transvestitismus“: „Ärztlicherseits bestanden gegen die Ausstellung einer polizeilichen Erlaubnis zum Tragen von Frauenkleidern keine Bedenken.“ 1922?
Natürlich nicht. Immerhin ein Verweis auf den Wechsel von sozialistischen zu marktwirtschaftlichen Todesfällen findet sich: „Arglose Menschen vermuten bei politischen Veränderungen und wirtschaftlichen Neustrukturierungen eine völlige Veränderung des Kolorits der Gewalttaten gegen andere oder gegen sich selbst. Doch die Vermutung ist falsch“, und „nur Anfänger im Fach halten unsere Fälle für sensationell und aufregend (...).“
Vor allem für den Fortgeschrittenen interessant ist sicher auch das Literaturverzeichnis mit seinen 338 Einträgen. Ähnlich ausführlich, aber etwas populärwissenschaftlicher geriet das Sachwortverzeichnis. Der Eintrag „Standardausreden“ zum Beispiel führt zu in die Einleitung eingeflochtenem Erfahrungswissen: „Würger tragen vor, sie hätten nur einmal kurz hingefaßt.“
Das bringt den Rezensenten zu seinen beiden Lieblingsbildern auf Seite 644. Oben steht das ordentliche kleinbürgerliche Klappsofa mit einem kuscheligen Kissen darauf; unten dieselbe Szene, nur daß der Bettkasten geöffnet ist und so das Opfer darin sichtbar wird, was zusammengenommen eine Komik entwickelt, die – zugegeben – nicht jeden erfaßt.
Der enzyklopädische Eifer, mit dem die Fälle zusammengetragen wurden, erinnert an die Hartnäckigkeit, mit der Insektenforscher Schmetterlingen nachstellen, um sie hinter Glas zu fixieren. So paart sich ein Sinn für das anekdotische Detail mit der Poesie von Gerichtsprotokollen: „Der Täter hatte angegeben, daß er mit seiner Frau wegen Geldangelegenheiten schon seit zwei Jahren in Unfrieden lebte. (...) In den letzten Tagen verrichtete er nachmittags die Wirtschaft angeblich nicht zur Zufriedenheit der Frau. Es kam am Tattag auch deswegen zu Auseinandersetzungen, in denen die Frau dem Mann drohte, ihm die Kasserolle um die Ohren zu schlagen. Sie schlug auch zu (...). Darauf stand er auf, packte die Frau von hinten und erwürgte sie ohne Gegenwehr. (...). Hiernach wartete er, bis die Tochter kam, richtete ihr das Essen her und schickte sie ins Kino. Als er wieder allein war, holte er ein Messer aus der Küche, legte alte Decken auf den Fußboden und versuchte, die Frau in einen alten Koffer zu packen. Als ihm dies nicht gelang, schnitt er ihr die Gliedmaßen ab. ,Es ging mir leicht von der Hand.‘ (...) Die Zerstückelung der 48 Jahre alten Frau dauerte etwa eine Stunde.“
Viele, vielleicht die meisten, finden solche Beschreibungen ekelhaft und überflüssig, besonders zusammen mit den Fotos. In einem Kriminalroman mögen sie die gleichen Geschichten, hier präsentiert mit Maß und mit Ziel natürlich, freilich sehr wohl. Dabei ist der Atlas genau das: ein Stück Literatur, ein Omnibus wahrhaftiger Geschichten, was die Autoren besser ausdrücken, als ich es jemals könnte: „Man muß auch das vorliegende Buch mit Ruhe und Sachlichkeit betrachten, selbst wenn es Dokumente von großer menschlicher Tragik enthält.“
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