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Der Lehrer als Berater

Dem Projektunterricht an der Max-Brauer-Schule droht mit der Abitur-Reform das Aus  ■ Aus Hamburg Patricia Faller

„Auf den Spuren der Hutterer nach Kanada fahren, das wäre genial“, sagt die 18jährige Miriam. So wie im vergangenen Herbst, als die 26 SchülerInnen des Oberstufenprofils „Umwelt“ der Hamburger Max-Brauer-Schule nach Sylt reisten. Die Schülerin erzählt heute noch begeistert davon: „Mit Schaufeln und Eimern sind wir losgezogen und haben Wattproben genommen. Fünf Stunden waren wir unterwegs in Gummistiefeln, die uns bis zu den Knien reichten.“ Bis spät in die Nacht wurde mikroskopiert und experimentiert.

Reisen gehört zwar auch zum Programm der radikal anderen Oberstufe dieser Gesamtschule, doch diesmal müssen Miriam (18 Jahre), Meltem (19), Maika (18) und Aysel (20) dicke Bücher wälzen und Medienkataloge beackern. In zehn Tagen sollen sie ihren MitschülerInnen des Jahrgangs 13 ihre Forschungsergebnisse zum Themenkomplex „Menschliches Zusammenleben“ präsentieren. Warum dieses Thema in einem sonst naturwissenschaftlich dominierten Bereich behandelt wird? „Der Mensch ist ein Teil der Umwelt, steht aber nicht in ihrem Mittelpunkt“, das will Biologielehrer Thomas Hagemann seinen SchülerInnen vermitteln. Außerdem soll die Engstirnigkeit der Naturwissenschaften aufgebrochen werden. Als Hutterer verkleidet wollen die vier Schülerinnen das Leben dieser Glaubensgemeinschaft darstellen: „Ein Rollenspiel kommt immer gut an“, ist sich das Team einig.

Den lehrerzentrierten Unterricht kennen die 1.000 SchülerInnen aus dreißig Nationen der Max- Brauer-Schule zwar auch. Seitdem im Sommer 1993 profilierter Oberstufenunterricht als Schulversuch eingeführt wurde, stehen aber fächerübergreifende Projekte im Vordergrund. Die LehrerInnen haben die Rolle von ModeratorInnen und BeraterInnen. „Wir lernen in Biologie und Chemie die Grundlagen der Genetik, und in Religion geht es um die Frage: Darf man zum Beispiel milchgebende Schweine züchten, und welche Folgen hätte das für die Umwelt?“ erklärt Maika das Konzept. Sie hatte sich zu Beginn der Oberstufe für das „Umweltprofil“ entschieden mit den Leistungskursen Biologie und Erdkunde, in denen sie eine schriftliche Prüfung ablegen muß. Zu dem Profil gehören auch die Grundkurse Chemie, Physik und Religion. Ein anderes Profil ist „Sprachen und Kulturenvielfalt“ mit den Leistungskursen Englisch oder Spanisch und Geschichte und den Grundkursen Musik, Religion und einer weiteren Sprache. „Kommunikation“ heißt das dritte Profil mit den Leistungskursen Deutsch und Kunst und den Grundkursen Philosophie, Informatik und Mathematik.

Warum diese drei Bereiche ausgewählt wurden, erklärt die Schulleiterin Barbara Krau: „Es handelt sich um gesellschaftliche Problembereiche, deren interdisziplinäre Bearbeitung für unsere Zukunft wichtig ist.“ Der Profilunterricht macht nur die Hälfte der Schulstunden aus. Die restlichen Kurse sind frei wählbar. Damit ist das Modell vereinbar mit den Vorgaben der Kultusministerkonferenz. Und: Die Max-Brauer-Pennäler schreiben ein ganz normales Abitur. „Für viele ist das Abitur ein Rückschritt, weil soziale Kompetenzen beispielsweise nicht geprüft würden“, faßt die Abteilungsleiterin der Sekundarstufe zwei, Christel Menzel-Prachner, die Erfahrungen des ersten Jahrgangs zusammen, der in diesem Jahr als erster nach der modernisierten Oberstufe ein altbackenes Abitur machen mußte. „Obwohl sich die Schüler häufig als Versuchskaninchen vorkamen, ist das Abitur nicht schlechter ausgefallen als in den Vorjahren“, erklärt Schulleiterin Barbara Krau.

Doch mit der heutigen Kultusministerkonferenz, die über die Zukunft der gymnasialen Oberstufe entscheiden will, könnte das Ende des fortschrittlichen Modells bereits gekommen sein. Dann nämlich, wenn sich konservative Stimmen durchsetzen, die den Untergang der deutschen Bildungselite befürchten. Sie pochen darauf, die Kernfächer Deutsch, Mathematik und Fremdsprachen aufzuwerten. „An anderen Schulen wissen die Schüler vielleicht mehr als wir, dafür finden wir uns später an der Uni oder im Beruf besser zurecht“, erklärt Miriam selbstbewußt und beschreibt damit auch das Hauptziel der Max-Brauer- Schule. Lebensnah soll die Ausbildung sein. Dazu werden ReferentInnen aus der Wirtschaft oder aus Umweltverbänden an die Schule geholt. Bei Betriebspraktika sollen die SchülerInnen die Arbeitswelt kennenlernen. Das Bestechende an dem Modell ist für die SchülerInnen: „Unsere Meinung ist gefragt“, sagt Aysel. Nicht nur, wenn es um die Themenauswahl geht, sondern auch bei der Leistungsbewertung. Für mehr Lust am Lehren und Lernen nehmen die Max- Brauer-SchülerInnen und -LehrerInnen den mit dem neuen Modell verbundenen höheren Zeit- und Arbeitsaufwand gerne in Kauf. Erst recht wenn die PraktikantInnen-BetreuerInnen der Firmen und Institutionen oder die Eltern die selbständigen SchülerInnen immer wieder in höchsten Tönen loben. Sollten die Kultusminister heute das Aus für die reformerischen Oberstufenmodelle einläuten, wäre das für Menzel-Prachner nach all den Ideen und der Arbeit eine „Horrorvorstellung“.

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