Die Grünen zwischen Krieg und Frieden

High-noon in Bremen. Auf dem Grünen-Parteitag in der Bremer Stadthalle fällt am Wochenende eine der letzten Grundsatzentscheidungen, die wesentlich für die Identität der Partei sind. Nach dem Schritt von der Antipartei zum Reformbündnis, nach der Ost-West-Vereinigung von Grünen und Bündnis 90 steht jetzt die Gewaltfreiheit in den zwischenstaatlichen Beziehungen zur Debatte. Dürfen Grüne nach dem Militär rufen, um das Schlimmste zu verhindern, oder bleibt die Partei im Grundsatz antimilitarisisch? Was passiert, wenn ein Teil der Fraktion dennoch für den Bundeswehreinsatz in Bosnien stimmt?

Die Tonlage bei den Grünen ist wieder schriller geworden. Vor dem Parteitag in Bremen, bei dem über die außenpolitischen Grundsätze der angeblich pazifistischen Partei Bündnis 90/Die Grünen neu verhandelt werden soll, braut sich eine Drohkulisse zusammen, die fatal an die Grabenkriege der achtziger Jahre erinnert. Längst überholte Lagerbildungen feiern plötzlich wieder fröhliche Urständ. Die dritte Kraft der Republik, die im Lichte der SPD- Krise in den letzten Monaten immer höher gehandelt wurde, steuert auf einen Crash zu, der, wenn er nicht rechtzeitig ausgebremst wird, erhebliche Verletzungen nach sich ziehen wird.

Der Konflikt hat drei Ebenen. Auf allen dreien werden am Samstag in der Bremer Stadthalle diverse Rededuelle ausgetragen:

Es geht zum einen um die schwierige inhaltliche Frage, ob nicht bei drohendem Völkermord doch ein internationaler militärischer Kampfeinsatz erlaubt und geboten ist.

Es geht zum zweiten um typische Männerfreundschaften konkurrierender Egomanen.

Und es geht drittens um strategische Optionen auf dem Weg zur Macht, die mit den verschiedenen inhaltlichen Positionen verknüpft sind.

Alles begann in der Woche, als Srebrenica fiel. Der Bundestag war in der Sommerpause, viele Abgeordnete im Urlaub, und die Meldungen rund um die bosnische Enklave im Südosten des Landes wurden immer bedrohlicher. „Die wenigen, die da waren, überlegten fieberhaft, was man machen könnte. Wir waren alle entsetzt.“ Für Helmut Lippelt, der den außenpolitischen Arbeitskreis der Bündnisgrünen leitet, wurde der Fall Srebrenicas und das anschließende Massaker an der wehrlosen Zivilbevölkerung zu einem Schlüsselerlebnis. „Pazifistische Rhetorik half mir da nicht weiter.“ Wie Lippelt ging es noch anderen Mitgliedern der Grünen-Fraktion, unter anderem eben auch Joschka Fischer. Der setzte sich hin, schrieb einen offenen Brief an seine Partei und löste damit die letzte große Selbstverständnisdebatte der Grünen aus. Ist grüne Außenpolitik immer und unter allen Umständen gewaltfrei, bleibt die Partei bei ihren Wurzeln aus der Friedensbewegung Anfang der achtziger Jahre, oder macht die veränderte Weltlage nicht auch andere Antworten einer ökologischen, gewaltfreien, linken Partei wie den Bündnisgrünen notwendig?

Die Antwort Fischers ist bekannt und hat sich bis heute nicht wesentlich verändert. In seiner Anfang der Woche veröffentlichten Replik an die Adresse seiner innerparteilichen Kontrahenten erinnert er daran, daß die Grünen vor Srebrenica für die Aufrechterhaltung der UN-Schutzzonen plädiert haben, „wissend um den völlig unzureichenden Schutz der Menschen dort“. „Waren diese Massenmorde verhinderbar? Ich meine ja. Und diese Erkenntnis ist für mich als Linken bitter, denn wenn den durch Massenmord bedrohten Menschen geholfen werden kann, moralisch, politisch und militärisch, dann verpflichtet der linke Grundwert der Solidarität zur Hilfe zum Überleben.“ Aus der konkreten Diskussion um den Schutz der Schutzzonen ist bei Fischer und seinen Anhängern im Antrag für den heute beginnenden Parteitag die verallgemeinerte Formulierung von der „Möglichkeit der Staatengemeinschaft zum Eingreifen im Fall von Völkermord“ geworden. In diesem Fall soll das Prinzip der Gewaltfreiheit außer Kraft gesetzt werden, die militärische Intervention erlaubt sein. Das, was in der Argumentation des Fischer-Lagers die besondere Stärke ausmacht – eine konkrete Antwort auf eine konkrete Situation zu geben – ist gleichzeitig die Achillesferse der Fischer-Gegner. Die fälschlich als Pazifisten annoncierte Gruppe um den Parteisprecher Jürgen Trittin und seinen Vorgänger Ludger Volmer vermeidet möglichst eine konkrete Antwort auf die Frage „Was tun, wenn ein erneutes Srebrenica droht?“ Sie verweist dagegen auf das strukturelle Problem der plötzlich wieder als Realos firmierenden Fischer-Leute. Wer einmal die Büchse der Pandora öffnet und einem militärischen Kampfeinsatz zustimmt, wird zukünftig die allergrößten Probleme haben, den Deckel wieder zu schließen. Wie, so fragt Ludger Volmer bewußt zugespitzt, wollt ihr eigentlich noch gegen Rühes Kriseninterventionskräfte argumentieren, wenn die Bundeswehr weltweit gegen den Völkermord antreten soll? Die Fischer-Crew, so argumentieren Trittin, Volmer und andere, unterstützt mit ihrer Position zwangsläufig eine Militarisierung der Außenpolitik und eine Militarisierung des Denkens. „Die Bemühungen um zivile Konfliktlösungen“, so Volmer, „geraten dabei völlig in den Hintergrund.“

Seit August hat insbesondere Ludger Volmer sich bemüht, die Schwachstelle seiner Argumentation nachzubessern. Die Brücke zwischen militärischen Optionen und der puren Hilflosigkeit, falls ein Konflikt trotz aller Prävention doch nicht zu verhindern war, sind die UN-Blauhelme. „Wenn in Srebrenica“, so Volmer heute, „statt 400 vielleicht 4.000 Blauhelme stationiert gewesen wären, hätte es zumindestens die Massaker wohl nicht gegeben.“ Die Partei, so fordern Volmer, die Fraktionssprecherin Kerstin Müller und die Bundesvorständlerin Heide Rühle, solle ihre bisherigen Vorbehalte gegen den Einsatz von UN-Blauhelmen aufgeben und der Aufstellung einer „Einheit für friedensbewahrende Einsätze der UNO“ zustimmen. Diese Blauhelme sollen keine Angehörigen der Bundeswehr sein, sondern speziell ausgebildet vom Auswärtigen Amt der UNO zur Verfügung gestellt werden, bis es eine feste multinationale Einheit unter der direkten Verfügung des UN-Generalsekretärs gibt. Darüber hinaus plädieren „die Linken“ für die Aufstellung bewaffneter Einheiten, die Wirtschaftssanktionen als Mittel internationaler Konfliktregulierung „überwachen und durchsetzen sollen“. Die dürfen zur Not auch schießen.

Tatsächlich gibt es in dem angeblichen „Pazifismusstreit“ auch noch eine pazifistische Gruppe bei den Grünen. Die heißen innerparteilich Radikalpazifisten, werden von den Vorturnern der beiden großen Lager gemeinsam nicht ernst genommen und plädieren nach wie vor für die ersatzlose Streichung der Bundeswehr und Nato. Wenn es in Bremen zum Schwur kommt, werden sie aber eher der Gruppe um Trittin und Volmer zugerechnet, weswegen man innerhalb und außerhalb der Partei allgemein davon ausgeht, daß „die Linken“ bei der Grundsatzabstimmung auf der Bundesdelegiertenkonferenz siegen werden.

Die Diskussion über diese elementare außenpolitische Frage wurde über weite Strecken auf hohem Niveau geführt. Daß daraus zuletzt doch noch ein Hickhack innerhalb der Partei wurde, hängt mit der Konkurrenz der drei führenden männlichen Protagonisten in der Debatte zusammen. Joschka Fischer, Ludger Volmer und Jürgen Trittin kennen sich seit Jahren und sind, ebenfalls seit Jahren, daran beteiligt, die innerparteiliche Machtbalance immer mal wieder neu auszutarieren. Der frühere Sponti Fischer ist sich seiner medialen Überlegenheit und seiner Macht innerhalb der Partei so sicher, daß er in seinem letzten offenen Brief sarkastisch anmerkte: „In den dreizehn Jahren, die ich nunmehr unserer Partei angehöre, war ich auf Bundesebene eigentlich fast immer in der Minderheit, aber ihr seht, weder die Partei noch ich haben daran Schaden genommen, und so wird es auch in Zukunft bleiben.“ Dagegen setzt der frühere Funktionär des Kommunistischen Bundes und jetzige Parteivorstandssprecher Jürgen Trittin auf Organisationsdisziplin. „Wenn der Parteitag eine Position verabschiedet hat, gehe ich davon aus, daß sich unsere Abgeordneten auch im Bundestag daran halten werden.“ Und wenn nicht?

Fischer und viele andere innerhalb der Fraktion haben bereits deutlich gemacht, daß sie bei der Bundestagsentscheidung über die Entsendung der Bundeswehr nach Exjugoslawien in der kommenden Woche nicht gewillt sind, wider ihre Überzeugung zu stimmen. Egal, was die Partei beschließt. Die Verbissenheit, die in den letzten Tagen in die Debatte gekommen ist, hat aber nicht nur persönliche Gründe. Vor allem seit in der SPD die Reihen neu geordnet werden, zeichnen sich auch die unterschiedlichen Strategien von Fischer und Trittin wieder deutlicher ab. Während Fischer peinlich darauf achtet, daß die Grünen eine Position vertreten, die ihnen außenpolitische Gestaltungsmöglichkeiten unter den gegebenen Bedingungen einräumen, bangt Trittin um die Hegemonie im linken Lager. Rücken die Grünen zu weit in die Mitte, kommen sie von seiten der PDS und selbst der Oskar-Pazifisten in der SPD unter Druck. Dem gilt es rechtzeitig einen Riegel vorzuschieben.

Während die einen noch ihre „Bataillone“ sammeln, versuchen andere, hinter den Kulissen den Crash abzupolstern. Aus keinem der in Bremen zur Debatte stehenden Anträge ergibt sich zwingend ein bestimmtes Abstimmungsverhalten der Bundestagsfraktion in der kommenden Woche. „Das ist eine zweite Debatte“, deutet Helmut Lippelt schon einmal einen möglichen Ausweg an. Der Parteitag kann den Abgeordneten ihr Verhalten freistellen, oder aber die Fraktion kann eine eigene Resolution formulieren, die mit den Parteitagsbeschlüssen kompatibel ist. „Wir arbeiten dran.“

Der überwiegende Teil von Fraktion und Partei sieht sich aber eher in der Rolle des Zuschauers. „Das werden die Boys unter sich ausmachen“, meint Andrea Fischer, die sozialpolitische Sprecherin der Fraktion. „Die haben es schließlich auch angerührt.“ Jürgen Gottschlich