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Die Mauer im Kopf bröckelt

■ Neue Jugendstudie: Wenig Unterschiede zwischen Ost und West, wenig Indizien für "Krise der Familie" und "Krise der Schule". Parteipräferenz Grüne und PDS

Jugendliche in Ost und West unterscheiden sich in ihrer Mentalität und ihrem Wertesystem nur noch wenig. Das ist das wichtigste Ergebnis einer umfangreichen Studie, die vier FU-ErziehungswissenschaftlerInnen gestern der Öffentlichkeit vorstellten. Zwischen 1990 und 1995 hatten sie jedes Jahr aufs neue knapp 4.000 SchülerInnen der Klassen 7 bis 10 in Ostberlin, Westberlin, Chemnitz, Frankfurt/ Oder und Siegen einen ausführlichen Fragebogen vorgelegt.

Bei vielen Antworten zeigte sich so gut wie kein Unterschied mehr zwischen den Ost- und Westjugendlichen. „Das hat uns zunächst doch sehr überrascht“, gab Prof. Klaus Boehnke zu. „Aber als wir frühere Umfragen von Leipziger Jugendforschern studierten, wurde uns klar, daß der große Mentalitätswandel in der DDR hin zu Hedonismus und westlichen Werten schon um das Jahr 1984 herum stattgefunden hat.“

Gewisse Differenzen fanden die ForscherInnen aber denn doch heraus. So stehen die Jugendlichen im Osten der Arbeit positiver gegenüber als im Westen, ihre Einstellung ist etwas materialistischer, etwas leistungsorientierter und ein ganzes Stück atheistischer. Zudem sind sie etwas anfälliger für nationalistische Parolen.

Doch Vorsicht: Nach Beobachtung Boehnkes betrifft das vor allem die Jüngsten unter den Befragten, die 13jährigen Siebtkläßler, „danach verliert sich das mit zunehmendem Alter“. Bei den 16jährigen Zehntkläßlern sei wiederum „die Zustimmung zu rechtsradikalen Parolen in Westberlin höher“.

Die Ausländerfeindlichkeit im Osten drücke also auch viel Unsicherheit um die eigene Identität aus. Zudem seien die ehemaligen DDR-BewohnerInnen ungeübter im alltäglichen Zusammenleben mit AusländerInnen. Rechtsradikale Haltungen im Westen hingegen seien zwar etwas seltener, dafür aber „gefestigter“ und „im Niveau konstanter“.

Insgesamt aber sind nach Beobachtung der ForscherInnen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern viel größer als zwischen Ost und West: Mädchen tendieren deutlich weniger zu Gewalt und zu „abweichendem Verhalten“ und sind weniger egozentrisch, trauen sich aber auch weniger zu und schätzen sich im Vergleich mit anderen geringer ein.

Vom Sieg des Feminismus, wen wundert es, sind wir also noch weit entfernt. In anderer Hinsicht zeitigt die Studie aber weitere positive Überraschungen: Die vielbeschworene „Krise der Familie“ und „Krise der Schule“ scheinen kaum mehr als mediales Geschwätz zu sein. Die große Mehrheit der befragten SchülerInnen fühlt sich in der Familie wohl – und zwar unabhängig davon, ob sie bei einem oder beiden Elternteilen aufwachsen. „Der häufig geäußerte Vorwurf des Versagens der Familie kann angesichts dieser Daten nicht überzeugen“, heißt es in der Untersuchung. Im großen und ganzen zufrieden sind die Jugendlichen auch mit der Schule. „Das Ergebnis steht in dieser Form in Widerspruch zu den sich häufenden Berichten über eine zunehmende Schülergewalt in Schulen“, schreiben die AutorInnen. Abweichendes und gewalttätiges Verhalten hätten sie an allen Orten nur bei einer kleinen Gruppe von SchülerInnen gefunden. In anderer Hinsicht aber liegen die Jugendlichen voll in dem Trend, den die Medien vieltönend beklagen. Nach ihrer Parteienpräferenz befragt, wußten rund 40 Prozent der ZehntklässlerInnen keine Antwort beziehungsweise bekannten sich als NichtwählerInnen. Ansonsten: 27 Prozent der OstberlinerInnen würden PDS wählen, 19 Prozent der WestberlinerInnen die Bündnisgrünen. Im Osten erhielten die Bündnisgrünen 11, die SPD 14, die CDU 6, die FDP 0 und die Reps 2 Prozent. Im Westen würden 17 Prozent die CDU und 17 Prozent die SPD wählen, die PDS käme auf 3, die FDP auf 0 und die Reps auf 1 Prozent.

Trotz des eindeutigen Trends hält sich ein Rest von Unterschiedlichkeit, wie man auch an den wechselseitigen Vorurteilen ablesen kann. Die Meinung der Westberliner Jugendlichen über die Ostberliner ist laut Studie seit Beginn der Befragung 1990 gleichförmig schlecht, und von der ursprünglichen Bewunderung des Westens ist bei den Ost-Kids nichts mehr zu spüren. Das eher traurige Ergebnis hat aber auch sein Gutes. „Demgegenüber nimmt die positive Einschätzung der Bewohner des eigenen Stadtteils kontinuierlich zu“, konstatieren die ForscherInnen. Mit anderen Worten: Die Ossis werden immer selbstbewußter. Ute Scheub

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