: Jedem Kranken sein Tagebuch
„PatientInnentagebücher“ könnten eine Alternative zur Chipkarte sein. In den Tagebüchern soll nur aufgeschrieben werden, was die PatientInnen vom Arzt erfahren ■ Von Klaus-Peter Görlitzer
In der Theorie ist alles klar: Jeder Patient hat jederzeit das Recht, seine Behandlungsunterlagen einzusehen und sich auf eigene Kosten Kopien davon anzufertigen – ohne dies begründen zu müssen. Das hat der Bundesgerichtshof bereits 1982 klargestellt. Wie die Wirklichkeit in Praxen und Krankenhäusern aussieht, weiß Edeltraut Paul-Bauer aus ihrer Beratungsarbeit bei der Bremer PatientInnenstelle: „Viele Ärzte sagen: ,Sie haben kein Recht auf Einsicht‘ und warten ab, ob man sich dagegen wehrt.“
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der PatientInnenstellen wirbt nun für eine Idee, die der Gesundheitsbewegung der siebziger Jahre auch schon mal gekommen war. Um das Informationsrecht im Alltag durchsetzen zu können, solle ein „PatientInnentagebuch“ eingeführt werden. Darin könnten nicht nur ärztliche Diagnosen, Befunde, Röntgenbilder und Empfehlungen abgeheftet werden. Die PatientInnen sollten in dem Tagebuch auch ihre Erfahrungen, Ausgangslage der Behandlung sowie Fragen und Wünsche an die MedizinerInnen aufschreiben.
Allerdings setzt das voraus, daß ÄrztInnen nach jeder Behandlung ihre Erkenntnisse unaufgefordert an ihre „KundInnen“ weitergeben. Zudem muß der Patient bereit sein, sich aktiv mit seiner Gesundheit und Krankheit zu beschäftigen. „Der entscheidende Unterschied zu einer Krankenakte“, bringt Hans-Jürgen Jonas von der Kölner PatientInnenstelle die Idee auf den Punkt, „bestünde in dem Perspektivenwechsel: Ärzte müßten auf ihre PatientInnen, auf unsere Sprache eingehen – und nicht umgekehrt.“ Was in seinem Tagebuch abgeheftet und beim Arzt vorgezeigt wird, entscheidet der Betroffene. Jonas und MitstreiterInnen propagieren das Tagebuch als selbstbestimmte Alternative zu elektronischen „PatientInnenkarten“. Die Chipkarten sollen, laut Werbeslogans, manchen Krankenkassen und ÄrztefunktionärInnen mehr Mündigkeit und Kommunikation im Arzt-PatientInnen-Verhältnis bringen. Das erste deutsche Projekt mit den elektronischen PatientInnenkarten hat im Sommer in Neuwied begonnen, die Leipziger AOK will im Januar nachziehen, auch Betriebskrankenkassen planen Feldversuche. Initiativen und DatenschützerInnen sind aber nicht nur skeptisch, sie sehen auch den gläsernen und kontrollierbaren PatientInnen kommen. Krankengeschichte und Medikation werden auf der Chipkarte EDV- gerecht gespeichert. Für Diagnosen werden standardisierte Ziffernkombinationen verwendet. Befunde sind stichwortartig ohne erläuternden Behandlungskontext formuliert.
Verknüpft mit anderen Daten erleichtern die Informationen auf den Chipkarten auch Wirtschaftlichkeitsprüfungen und Risikofaktorstudien. Ob Krankenkassen und staatlich beauftragte EpidemiologInnen dabei dann vornehmlich die Interessen von PatientInnen im Blick haben, ist zumindest fraglich.
Das erklärte Ziel der Chipkartenlobby, mittelfristig die Mehrheit der BürgerInnen zum Umstieg auf die elektronische Krankenakte zu bewegen, hat die Datenschutzbeauftragten schon alarmiert: „Die massenhafte Einführung der Karten, unken sie, „erzeugt einen sozialen Druck auf die Betroffenen, sie mitzuführen und vorzuzeigen“ – nicht nur beim Arzt, sondern womöglich auch bei Versicherungen, Arbeitgebern, Behörden.
Bereits im März 1994 forderten die Datenschutzbeauftragten die Parlamente in Bund und Ländern auf, möglichen Mißbräuchen frühzeitig vorzubeugen und Regelungen für den Einsatz von Chipkarten im Gesundheitswesen zu erarbeiten. Passiert ist nichts.
Und so scheint es auch zu bleiben. Auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, eingebracht von ihrer Gesundheitspolitikerin Marina Steindor, erklärte die Bundesregierung, sie halte „eine gesetzliche Regelung derzeit für verfrüht“ und beabsichtige auch nicht, entsprechende Vorschläge zu erarbeiten. „Untersuchungen zur Auswirkung des Einsatzes von PatientInnenchipkarten auf das PatientInnen-Arzt- Verhältnis“, versichert Staatssekretär Baldur Wagner, „sind der Bundesregierung nicht bekannt.“ Anlaß, sich schlau zu machen, sieht Wagner offenbar nicht: Studien, die Wünsche und Bedürfnisse von PatientInnen zur Dokumentation ihrer Krankenunterlagen ermitteln, möchte die Regierung jedenfalls nicht finanzieren. „Die Suche nach datenschutzfreundlichen Alternativen zu Chipkarten“, von der Datenschützerkonferenz Anfang November erneut gefordert, ist im Gesundheitsministerium kein Thema.
Gleichzeitig mischen auch deutsche Regierungsbeauftragte seit zwei Jahren offiziell in der von der EU-Kommission initiierten „Konzertierten Aktion Eurocards“ mit. Deren Mission ist es, EU-weit standardisierte Gesundheitschipkarten einzuführen, Akzeptanz für dieselben zu fördern und die Gesetzgeber zur Zurückhaltung zu bewegen. Welche Ergebnisse die EurocardsexpertInnen bislang zusammengetragen haben, wollte Staatssekretär Wagner der bündnisgrünen Fraktion im Bundestag aber nicht verraten.
„Auf dem Weg in die vielbeschworene Informationsgesellschaft“, folgert Gesundheitspolitikerin Steindor aus den regierungsamtlichen Antworten, „bleiben die Interessen und Bedürfnisse der Patienten auf der Strecke.“
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