: Dem Land drohen Massenklagen wegen Osttarif
■ ÖTV spricht von 5 Milliarden Mark, die das Land möglicherweise zurückzahlen muß
Die ungleichen Tariflöhne in Ost und West könnten dem Land nachträglich teuer zu stehen kommen. Rund 15.000 Ostarbeitnehmer will die ÖTV bewegen, bis zum 31. Dezember 1995 bei den Arbeitsgerichten wegen ungleicher Tarifzahlungen zu klagen. Entsprechende Massenvordrucke würden an die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes verteilt, so ÖTV-Chef Kurt Lange. Sollten die Betroffenen siegen, müßte das Land nach Berechnungen der Gewerkschaft rund fünf Milliarden Mark zurückzahlen.
Hintergrund ist die Klage eines Beschäftigten der Feuerwehrwache Mitte. Dieser hatte im Oktober erfolgreich vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) für die Zahlung übertariflicher Leistungen gestritten. Er hatte geltend gemacht, daß ein Ostberliner Kollege, der zeitweise im Westen arbeitete, nach seiner Rückkehr weiterhin Westtarif erhielt. Das Gericht folgte dem Feuerwehrmann: Ihm stünden ebenfalls die Leistungen seines Kollegen zu.
Der Senat trat gestern die Flucht nach vorn an und will nun vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Die Position des BAG sei „juristisch angreifbar“, erklärte Senatssprecher Michael-Andreas Butz. Er deutete an, daß der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen und Innensenator Dieter Heckelmann mit der ÖTV über ein „Stillhalteabkommen“ verhandeln wollen.
Umstritten ist zwischen Senat und ÖTV die Verjährungsfrist für die Klageerhebung. Weil diese Ende Dezember ausläuft, müssen bis dahin auch die Arbeitsgerichte angerufen werden. Lange hatte zuvor erfolglos versucht, beim Senat eine zeitliche Öffnung durchzusetzen, um die Richter zu entlasten. Während der ÖTV-Chef erklärte, bei der Zusammenlegung der Verwaltungen im Dezember 1993 hätten rund 15.000 Ostberliner die gesetzliche halbjährige Einspruchsfrist gegenüber dem Land eingehalten, sprach Butz von einer „geringen Zahl“. Er widersprach auch der Darstellung der ÖTV, das Land müsse im Falle erfolgreicher Klagen fünf Milliarden zurückzahlen. Es handle sich allenfalls um „mehrere Millionen Mark“. Im Dezember 1993 erhielten die Ostbediensteten 84 Prozent des Westlohnes, seit dem 1. November dieses Jahres sind es 94 Prozent.
Gelassen sieht die ÖTV dem Berliner Gang nach Karlsruhe entgegen. Vor dem Verfassungsgericht sei die Klage eines Ostbeschäftigten des Bundesumweltamtes auf Gleichbehandlung anhängig. Dort werde wohl kaum anders als beim BAG entschieden, glaubt Lange.
Indirekt hatte das BAG im Feuerwehrurteil das Verhalten des Landes gerügt, weil es bei der Rückkehr des Ostfeuerwehrmannes nicht den Osttarif zahlte. Pikant: Das Land könnte die an den Ostberliner Feuerwehrmann gezahlten übertariflichen Westleistungen wieder zurückfordern. Das Gericht hatte nämlich festgestellt, die Zahlungen nach Westtarif seien ohne Rechtsgrundlage erfolgt. Man wolle den Konflikt aber nicht auf Kosten der Beschäftigten austragen und strebe daher eine „einvernehmliche Klärung“ mit der ÖTV an, so Butz. Dagegen erklärte Lange: „Ich habe nichts zu klären.“ Severin Weiland
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