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Neonazis online: Im „Thule-Netz“

Trotz aller Partei- und Vereinsverbote: Die militante Rechte organisiert sich im Untergrund. Die Kommunikation zwischen den Gruppen läuft über Mailboxen. Abhörsicher – dank moderner Verschlüsselungsprogramme  ■ Von Burkhard Schröder

Zwischen dem 23. September und dem 11. Januar finden in Deutschland schriftliche Prüfungen in nationalsozialistischer Weltanschauung statt, unter anderem in Würzburg und Hamburg. Zur Prüfung – Thema: „Reichsbürgerkunde“ – wird nicht jeder zugelassen, sondern nur bewährte und geschulte Neonazi-Kader. Der genaue Termin und Ort der Veranstaltung sind geheim. Bekannt ist aber der Prüfer, der auch das Schulungsmaterial ausgearbeitet hat: Dr. Reinhold Oberlercher, Hamburger Soziologe und ehemaliger Funktionär des SDS.

Die militante Rechte in Deutschland ist weder zerschlagen noch eingeschüchtert. Ganz im Gegenteil. Obwohl viele der durch die Medien bekannt gewordenen Rechtsextremisten wie der Hamburger Neonazi Christian Worch oder der NPD-Chef Deckert längere Gefängnisstrafen aufgebrummt bekommen haben, organisieren nationalsozialistische Kader vor allem in den neuen Ländern den Untergrund. Zielgruppe ist die rechte jugendliche Subkultur. Wichtigstes Mittel ist das Thule-Netz, ein Computer-Verbund aus einem Dutzend Mailboxen.

Thule-Boxen gibt es in Neubrandenburg, Berlin, Hameln, Frankfurt/M., München, Karlsruhe, einige in kleineren Orten in Baden und Bayern. Dem Thule-Netz verbunden ist eine Neonazi-Mailbox in Rotterdam („Weerwolf BBS“). Eine weitere in Oslo („Motstand BBS“) ist offline – der Betreiber wurde verhaftet.

Die Mailbox der NPD in Weinheim, „Reisswolf BBS“, ist auf einer unteren Ebene dem Netz angeschlossen. Per Datenfernübertragung organisieren rechtsextremistische Computer-Freaks Oberlerchers Schulungen, den elektronischen Vertrieb nationalsozialistischer Zeitschriften sowie parteiübergreifende Diskussionen zu Strategie und Taktik der militanten Rechten. Es wird Zeit, schrieb ein Neonazi-Funktionär im Thule- Netz, daß wir uns mit der „kulturellen Vorherrschaft der Linken“ auseinandersetzen.

Flankiert wird die theoretische Ausbildung militanter Neonazi- Kader für den revolutionären Umsturz durch Texte, die jeder User des Thule-Netzes in diversen Mailboxen kopieren und dann verteilen kann. In der zentralen Thule-Box „Widerstand BBS“ sind Dateien verfügbar, die sich mit der Enttarnung von „Spitzeln, Spaltern und Provokateuren“ beschäftigen. Betreiber ist der Erlanger Informatiker Thomas Hetzer alias „Alfred Tetzlaff“ aus dem Umfeld der „Jungen Nationaldemokraten“.

Detailliert wird über die Arbeit des Verfassungsschutzes informiert – mit konkreten Beispielen: „Einem Kameraden mit hervorragendem Hintergrundwissen wurden vor wenigen Monaten 5000,– DM monatlich geboten...“ Der Text „Kader“ beschreibt im Detail den Aufbau einer illegalen Organisation. Die müsse, so wird Lenin zitiert, aus Leuten bestehen, „die sich berufsmäßig mit revolutionärer Tätigkeit befassen“. Diese elektronisch verfügbaren Publikationen stammen fast alle aus theoretischen Schriften der verbotenen „Nationalistischen Front“ bzw. deren Nachfolgeorganisation „Sozialrevolutionäre Arbeiterfront“. Die NF hat sich zwar gespalten, ist aber weiterhin sehr aktiv.

Die kleinere Fraktion um den ehemaligen, zur Zeit inhaftierten NF-Chef Meinolf Schönborn versucht, durch lancierte Pressemeldungen die eigene, eher geringe Bedeutung zu erhöhen. Der Flügel um Andreas Pohl ist vor allem in und um Berlin sowie in Sachsen- Anhalt und Thüringen präsent. Die Pohl-Fraktion besitzt in Berlin eine eigene, dem Thule-Netz angeschlossene Mailbox, die „SoRevo BBS“, deren Betreiber Thomas Richter sich „Kommando F.“ nennt. Der NF-Kader Steffen Hupka gibt in Quedlinburg das nationalsozialistische Theorie-Organ Umbruch heraus, dessen Ausgaben elektronisch im Thule-Netz verbreitet werden. Hupka, der von den „Jungen Nationaldemokraten“ kam, ist es gelungen, unter dem Deckmantel eines „Deutschen Freundeskreises Nordharz“ mehrere Neonazi-Gruppen zu koordinieren. Dazu gehören der „Harzer Heimatschutzbund“ in Thale und die Gruppe „Aufbruch“ in Blankenburg. Auch die ehemalige FAP-Kameradschaft in Wernigerode, die mehr als 50 Rechtsextremisten umfaßte, ist in Hupkas Verbund aufgegangen.

Das organisatorische Konzept der militanten Rechten besteht – nach dem Verbot vieler ultrarechter Politsekten – im Prinzip der „autonomen Kameradschaft“. Nur die Anführer wissen um die Identität der anderen Kader, die Mitglieder kennen nicht die der anderen Kameradschaften. Sympathisanten müssen sich erst längere Zeit bewähren, um aufgenommen zu werden. Parteibindungen sind nicht erwünscht, um den polizeilichen Zugriff zu erschweren, Parteigrenzen spielen keine große Rolle mehr. So kann zwar der Frankfurter NPD-Funktionär Ernst Marschall, einer der User des Thule- Netzes, die Berliner NF- Fraktion als „Spinner vom Glatzenhaufen“ beschimpfen. In wesentlichen Fragen arbeiten jedoch alle zusammen. Meinolf Schönborn speiste z.B. am 13. 9. seine Presseerklärung zum Ausstieg des Neonazi- Bombenexperten Peter Naumann ins Thule- Netz. Diese Erklärung wurde vom Chef der verbotenen „Nationalen Offensive“, Michael Swierczek, beantwortet, der am 17. 9. den Aufruf des Hamburger Verfassungsschützers Ernst Uhrlau, der Gewalt abzuschwören, als eine „Seifenoper“ bezeichnete. Er forderte die „Kameraden“ auf, den Aussagen Naumanns zu mißtrauen.

Neuestes Projekt der militanten Rechten, das im Thule-Netz vorgestellt wurde, ist eine nationalistische Zeitung, die in drei Regionalausgaben erscheint: der Berlin-Brandenburger Zeitung (BBZ), die vor einigen Jahren noch von der jetzt verbotenen „Deutschen Alternative“ herausgegeben wurde; die Junges Franken (JF) und die Neue Thüringer Zeitung (NTZ). Alle drei erscheinen mit gleichem überregionalem Teil, der regionale Außenteil ist jeweils verschieden. Beteiligt an der Redaktion sind Rechtsextremisten der NPD wie Klaus Beier, NPD-Vorsitzender Aschaffenburg, Mitglieder der „Jungen Nationaldemokraten“ aus Franken, der Berliner Neonazi Frank Schwerdt sowie Kader der früheren NF. Diese Art von Zusammenarbeit zwischen ehemals konkurrierenden Gruppen wäre noch vor ein paar Jahren undenkbar gewesen.

Die neuen elektronischen Medien gewähren nicht nur die schnelle Verbreitung von Propaganda und Diskussionsbeiträgen, sondern auch maximale Sicherheit. Private Nachrichten von einem Thule-User zum anderen werden mit dem Programm „Pretty Good Privacy“ (PGP) des US-amerikanischen Programmierers Phil Zimmermann verschlüsselt. Verwalter der Schlüssel, mit denen Mails codiert werden, ist Kai Dalek alias „undertaker“, der Systembetreiber der „Kraftwerk BBS“ in Weissenbrunn/Kronach. Dalek wird nachgesagt, ein umfangreiches Video-Archiv mit Aufnahmen politisch mißliebiger Feinde der Neonazis zu besitzen. Im Thule-Netz wird zwar eine technisch veraltete Programm-Variante von PGP benutzt; die Wünsche diverser Geheimdienste nach verbesserten Abhörtechniken laufen trotzdem ins Leere. Zusätzlich bieten die Thule-Boxen, wie andere Mailboxen auch, steganographische Software zum kostenlosen Kopieren an: Steganographie verschleiert die Tatsache, daß verschlüsselt wurde. Diese Software bindet codierte Texte in Sound- oder Graphikdateien ein – eine perfekte elektronische Tarnkappe.

Die Thule-Systembetreiber (Sysops) kommunizieren in einem gesonderten Forum („Brett“), das nur sie lesen dürfen. Ihre Nachrichten sind zusätzlich mit einem Paßwort („Mantra“) gesichert. In den letzten Wochen diskutierten die Sysops über das Niveau des Netzes. Sie beschlossen, allen Usern, die gegen die Regeln verstoßen – „keine Beleidigungen, keine strafbaren Inhalte“ –, „massiv und ohne Vorwarnung“ Schreibverbote zu erteilen. Diese Kontrolle soll verhindern, daß die Polizei einen juristisch haltbaren Grund findet, Thule- Mailboxen zu beschlagnahmen. Deshalb werden Nachrichten mit offen antisemitischen Inhalten gelöscht, schon bevor sie öffentlich zugänglich sind. Die Neonazis befürchten auch, daß Antifas mitlesen. So verdächtigten z.B. die Sysops intern User mit den Pseudonymen „Wilhelm Tell“ und „Eummelzocker“, „Angehörige des linken Spektrums“ zu sein.

Vermutungen über Anleitungen zum Bombenbau, die vor allem in den Medien ohne genaue Recherchen geäußert wurden, haben sich nicht bestätigt. Im abgeschotteten Thule-Netz ist so etwas nicht zu finden, wohl aber im weltumspannenden Internet. Jede US- Miliz hat dort ihre eigenen Homepages. Amerikanische, kanadische und andere Nazis verbreiten dort Propaganda. Allen voran der deutsch-kanadische Nazi Ernst Zündel und der Holocaust-Leugner Greg Raven, dessen ominöses „Institut for Historical Review“ für revisionistische Traktate bekannt ist. Rechtsextremistische Skinhead-Gruppen wie „Stormfront“ werben per Internet und Mailbox auch für das deutsche Thule-Netz.

Das Thule-Netz hat in Ansätzen erreicht, was bei seiner Gründung anvisiert wurde – die Vernetzung und Schulung der gesamtdeutschen rechten Szene. Und nicht nur in Deutschland. Auch die Nazis in Österreich wollen sich mit den deutschen Gesinnungsgenossen kurzschließen. Mitte Oktober war ein Rechtsextremist aus Wien mit dem Thule-Pseudonym „Arisk“ bei Thomas Hetzer in Erlangen, um über den Aufbau einer Mailbox in der österreichischen Hauptstadt zu diskutieren.

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