piwik no script img

Grob gerasterter Todeskandidat

■ Mumia Abu-Jamal auf CD-ROM: „Live from Death Row“, die Geschichte des zum Tode verurteilten Journalisten, versucht sich in digitaler Gegenöffentlichkeit

Das erste, was Mumia Abu- Jamal fühlte, als er 1981 im Krankenhaus in Philadelphia wieder zu sich kam, war ein unerträglicher, schmerzhafter Druck im Unterleib. Er öffnete die Augen und sah einen weißen Polizeibeamten, der mit dem Stiefel auf seinem Harnbeutel stand und versuchte, den Urin zurück in seine Blase zu pressen. Wäre sie geplatzt, der schwer verletzte und bewegungsunfähige Mumia Abu-Jamal wäre sofort gestorben. Das erzählt er in einem Interview, das sich auf der CD-ROM „Live from Death Row“ findet.

Der schwarze Journalist sitzt seit 1982 in dem Hochsicherheitsgefängnis State Correctional Institute in Huntington, Pennsylvania, und wartet darauf, auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet zu werden. Er soll bei einer Schießerei einen Polizisten umgebracht haben. Abu-Jamal war damals selbst angeschossen worden.

Obwohl die Beweislage dürftig war und mehrere Zeugen ausgesagt hatten, daß sie den Mann, der den Streifenpolizisten Faulkner erschossen hatte, weglaufen sahen, wurde Abu-Jamal von einer mehrheitlich weißen Jury zum Tode verurteilt. Viele Amerikaner glauben, daß Abu- Jamal nicht in der „Death Row“, dem Todestrakt, sitzt, weil er einen Mord begangen hat, sondern weil er in seiner Heimatstadt Philadelphia als Journalist politisch unbequem wurde. Schon als Teenager schloß er sich Ende der sechziger Jahre den Black Panthers an, als Journalist schrieb er später über Polizeischikanen gegen African- Americans und über die radikale „Move“-Organisation. Diesen Sommer konnte eine internationale Pressekampagne seine Hinrichtung in letzter Minute verhindern. Trotzdem sitzt Abu-Jamal nach wie vor im Knast, sein Leben bleibt gefährdet.

Teil der Kampagne für Mumia Abu-Jamal ist die vorliegende CD- ROM. Sie ist vermutlich das erste Beispiel einer CD-ROM, mit der versucht wird, Gegenöffentlichkeit herzustellen. Was nicht im amerikanischen Medien-Mainstream stand, steht auf dieser CD-ROM, könnte man in Anlehnung an eine taz-Kampagne über „Live from Death Row“ sagen. Chuck D. von der amerikanischen HipHop- Band hat Rap das „schwarze CNN“ genannt – „Live from Death Row“ hat Ähnliches vor: eine Gegenrede zu den Halbwahrheiten der etablierten Presse. Die New York Times berichtete zum Beispiel, Abu-Jamal habe im Gerichtssaal die Witwe des erschossenen Polizisten diabolisch angelächelt, als dessen blutverschmiertes Hemd als Beweisstück gezeigt wurde. Tatsächlich aber war Abu- Jamal zu diesem Zeitpunkt schon unter windigen Vorwänden vom Verfahren ausgeschlossen, wie sein Anwalt hier berichtet.

„Live from Death Row“ präsentiert reichhaltiges Material zum Fall Mumia Abu-Jamal. Außer einem kompletten Reprint seines Buches „Live from Death Row“ gibt es 50 Radiobeiträge, die er zwischen 1989 und 1995 für die Radiosendung „All things considered“ produziert hat, zum Teil sogar mit Originalton. Der Schauspieler Giancarlo Esposito schildert Abu- Jamals Leben. In kurzen auf Video aufgezeichneten Statements sprechen unter anderem auch der Schriftsteller E.L. Doctorow, der Literaturprofessor Cornel West und der jamaikanische Reggae- Star Mutabaruka über den zum Tode Verurteilten.

Ein besonderer Vorteil gegenüber einem Buch, in dem man im Prinzip ja ähnliche Beiträge unterbringen könnte, ist bei dieser CD- ROM, daß man Abu-Jamal tatsächlich sehen kann – mit recht grober Auflösung zwar, aber trotzdem deutlich genug, um ein eigenes Bild von dem Mann zu gewinnen. In einem kurzen Fernsehinterview von 1989 spricht er über seine Strafe. Dabei wirkt er nicht wie jemand, der so unbeherrscht wäre, aus einem Affekt heraus zu morden. Und nicht dumm genug, um als militanter Schwarzer einen weißen Cop zu erschießen.

Sind CD-ROMs also ein geeignetes Medium für Gegeninformationen? Mit handelsüblichen Programmen wie Macromedia, mit dem diese CD-ROM programmiert wurde, kann man relativ schnell lernen, wie Multimedia- Applikationen geschrieben werden. Das ist aber nach wie vor personalaufwendig: 30 Mitarbeiter, vom Graphiker bis zum Texter, vom Kameramann bis zum Programmierer, listen die „Credits“ dieser Produktion auf. CD-ROMs werden nicht von einzelnen Autoren, sondern von Teams gemacht. Wenn man die notwendigen Leute hat, kann man allerdings Multimedia-Produktionen schaffen, die einen stärkeren Eindruck hinterlassen als ein Buch zum gleichen Thema. Freilich nur bei Computerbesitzern. Tilman Baumgärtel

First Person: Mumia Abu-Jamal – Live from Death Row. CD-ROM für PC und Mac, Voyager, 69 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen