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Draußen Videoüberwachung, drinnen Entertainment

■ Fluxus und John Cage im neueröffneten Mediens6* lon. Den Videotapes von einst fehlt heute zum Vorführen der Recorder

Das Böse kommt manchmal recht banal daher. Oft lugt es aus den Werbeblöcken des Fernsehens, gefüttert von den Phantasien der Marketingstrategen. Darin kommt das Wort „sozial“ nur als Anhängsel von social engineering vor: Ein weißer Mann, Stellvertreter der Mehrheitsgesellschaft, sitzt zwar im Gefängnis, aber vor einem schönen Fernsehgerät von Panasonic. Das ist angenehm, und deswegen verläßt der Mann sein flauschiges Domizil nur ungern. Entlassen!

Die Wirklichkeit draußen ist grau, zugebaut mit Sozialbaubeton und bewohnt von jugendlichen Gewalttätern. Schnell zurück in den Wohnzimmerknast. Das ist das Leben in der Vorstadt, draußen die Videoüberwachung und drinnen die Weiten der Entertainmentuniversen, die mit dem vernetzten PC zu Zeit in ungeahnte Dimensionen ausgeweitet werden. Reale Alternativen zur Vision telearbeitender und -konsumierender Suburbaniten finden sich selten.

Nachdem das Internetcafé X-ess im Haus der Kulturen der Welt und das Berliner Clubnetz wegen Finanzmangels vorübergehend abgeschaltet wurden, stehen jetzt im neueröffneten Mediens6lon (Schlesische Straße 32) wieder Terminals mit Internet- Anbindung zur Verfügung. Bis zum Ende des Jahres organisiert der Salon die Veranstaltungsreihe „The 90s meet the 60s“, begleitet von einer permanenten Ausstellung. Der Blick auf die 60er Jahre könnte neue Perspektiven in die Auseinandersetzung mit den elektronischen Medien bringen. Hatte das Sprechen von Netzwerken nicht irgendwann mal eine andere Bedeutung? Der Weg vieler amerikanischer Techno-Pioniere führte von den politischen Grass-roots-Netzen geradewegs in die elektronischen Netze, die sie als adäquate Kommunikationsstruktur für ihre Visionen betrachteten.

Auf etwas anderes Terrain führt heute abend eine Veranstaltung zum Thema Fluxus. Neben „Misfits“, einem Video mit Originalaufnahmen der New Yorker Fluxusaktionen, gibt es Musik von John Cage. Interaktionen in der wirklichen Welt will am Samstag ein Do-it-yourself-Party-Happening provozieren. Wem der Sixties-Lehrgang zu didaktisch ist, der kann sich am 16. Dezember mit Erwin Reiss auseinandersetzen.

Reiss, heute FU-Dozent, produzierte damals mit Friedrich Knilli das Hörspiel „Die Lust am Kapitalismus“ für den WDR. Diese „Radio Deklaration“ versuchte, die politische Ökonomie anhand ihrer libidinösen Mechanik zu thematisieren. Sie wurde allerdings weder im „année erotique“ 1969 noch jemals später gesendet. Sexpol war dem WDR zu heiß, zumal die Autoren Fragmente der eben verlesenen Regierungserklärung eingebaut hatten. Trotz gelegentlicher Zensur waren Medienwissenschaftler in den 60ern gut aufgehoben, meint Reiss. Aufklärung über die Auswirkungen der elektronischen Medien stand hoch im Kurs.

Anhand historischer Flugblätter will Reiss im Anschluß an die Uraufführung seines Hörspiels über die Medienrevolution der 68er sprechen. Andere Hilfsmittel stehen ihm heute nicht mehr zur Verfügung: Der ersten Generation von Videobändern, die die Pioniere damals benutzten, fehlt heute die Hardware. Ulrich Gutmair

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