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Auf müden Knochen zurück zur Macht

Rußlands Kommunisten beschwören die nationale Wiedergeburt. Die Rentner folgen  ■ Aus Nischnij Nowgorod Klaus-Helge Donath

Sjuganow? Hier? Keine Ahnung!“ meint der junge Milizionär gelangweilt. Er schiebt Dienst vor dem Gebäude, in dem der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Rußlands, Gennadij Sjuganow, heute seinen Wahlkampfauftritt hat. An der Glastür klebt auch ein Plakat. Eine stahlstrotzende hochgerüstete Lokomotive, die Partei, rammt unversehrt durch einen respektablen Granitblock. Brocken zerstieben in alle Richtungen: Inflation, Preissteigerung, Kriminalität und Arbeitslosigkeit steht auf ihnen geschrieben. Mit einem Schlag sind sämtliche Übel der Gegenwart beseitigt.

Im Foyer brummt unterdessen schon die tiefe Stimme des stattlichen Vorsitzenden: „Rußland ist eine blutende Wunde“, klagt der Redner. „Von allen Desastern, die in der langen tragischen Geschichte über es hereingebrochen sind, ist dies das allerschlimmste“, donnert er in den Saal hinein, den er nicht erst für sich gewinnen muß. Die Versammlung dankt ihm mit stürmischem Applaus, gleichsam als habe er sie von einem Trauma befreit. Dem Trauma von Reformen und Veränderung. Die Zuhörer teilen nicht nur seine Meinung, sie verabscheuen das gegenwärtige System in Moskau, die Jelzins und Tschernomyrdins, wohl noch inbrünstiger als ihr heutiger Redner. Sein Ton oszilliert zwischen Lamento und Philippika, eine eigentümliche Mischung aus Larmoyanz und berstender Angriffslust. Es ist die Tonart, in der Rußlands Kommunisten landauf, landab um Wähler werben.

Sjuganow ist in Nischnij Nowgorod zu Gast, einer Industriestadt am Zusammenlauf von Wolga und Oka mit anderthalb Millionen Einwohnern. Seit über vier Jahren führt der liberale Gouverneur Boris Nemzow Regie in dem Gebiet. Sein Reformkonzept galt als vorbildlich und wurde von anderen Regionen übernommen. Namhafte Industriebetriebe beheimatet die Stadt, unter ihnen den Autofabrikanten „Gaz“. Dieser verdankte früher seinen Ruf dem Mittelklassewagen „Wolga“. Schwarz und chromblitzend, war er die bevorzugte Limousine der Nomenklatura. Jetzt rollen Kleintransporter von den Bändern. Trotz der 150.000 Beschäftigten kann das Unternehmen die Nachfrage kleiner und mittelständischer Betriebe nicht decken. Man rechnet im nächsten Jahr mit einer weiteren Produktionssteigerung von 15 Prozent. Die Flexibilität der Unternehmensführung zahlt sich aus, die Löhne liegen weit über dem landesweiten Schnitt von umgerechnet 150 Dollar. Mit keinem Wort geht Sjuganow darauf ein. Denn seine Klientel will etwas anderes hören. Als Gastgeber tritt die „allrussische staatspatriotische Union ,Geistiges Vermächtnis‘“ auf. Als ihr Ziel nennt sie: „Schaffung einer staatspatriotischen Ideologie der Russen und anderer Völker, basierend auf den historischen, intellektuellen und geistigen Werten Rußlands“. Das ist denn auch das Hauptthema, das Sjuganow rauf und runter dekliniert. Von der „russischen Idee“ ist da die Rede. Sie sei die Kollektivität, ihr Garant eine „starke russische Staatlichkeit“. Alle verstehen das. Gemeint ist ein imperialer Machtstaat nach altem Vorbild, der im Tausch für individuelle Freiheit ein Minimum an sozialer Garantie bietet. Die Teilnehmer sind begeistert – trotz des unsauberen wordings verstehen sie die Botschaft. Einige rutschen unruhig hin und her. Man spürt ihren Wunsch: Möge er es doch beim rechten Namen nennen! Doch Sjuganow hält sich zurück, vermeidet Eindeutigkeit, die ihn bei weniger Hartgesottenen in Teufels Küche bringen könnte.

Aus den beiden Seiteneingängen quillen Besuchertrauben. Etwas mehr als tausend dürften es sein. Das Gebäude dient sonst als Kulturzentrum. Noch immer schmücken Marx, Engels und Lenin die Wand. Auf dem Podium thront eine Leninbüste vor roten Samtbannern der Partei. Darüber hängt ein Plakat „Arbeit, Volksherrschaft, Sozialismus“ in stilisierten altrussischen Lettern, wie sie chauvinistische Organisationen und die russisch-orthodoxe Kirche verwenden. Für die hegt der Generalsekretär in letzter Zeit eine Menge Sympathien: „Die russisch- orthodoxe Kirche ist eine tragende Säule der russischen Idee. Im Großen Vaterländischen Krieg, als die Faschisten unserem Land an die Gurgel gingen, erhob die Kirche ihre Stimme zur Verteidigung des Vaterlandes“, ruft Sjuganow. Nicht alle können dem so ohne weiteres zustimmen, denn die Masse der Versammelten ist weit über die Sechzig. Für sie war der Atheismus ein Pfeiler des wissenschaftlichen Kommunismus. Doch auch das nehmen sie hin, letztlich oblag es immer der Partei, zu sagen, was richtig ist und wo es langgeht. Die meisten Rentner sind erbärmlich gekleidet, auf den abgewetzten Uniformjacken zeugen Orden von einer Zeit, die für sie im nachhinein die bessere war. Der Eindruck verfestigt sich, sie seien zusammengekommen, um gegen die Buntheit und Andersartigkeit des Jetzt zu protestieren. Einstimmig nehmen sie die vom Podium vorgeschlagene Liste der Kandidaten für das Zentralkomitee des „Geistigen Vermächtnisses“ entgegen. Mühselig schlurft ein weißhaariger Mann in Filzstiefeln durch die Menge. Kaum hat er den Redner vernommen, klatscht er voller Begeisterung in die Hände. Die Teilnehmer der Konferenz seien hauptsächlich Wissenschaftler, heißt es. Viele von ihnen waren früher Ingenieure, Angehörige der technischen Intelligenz. Der Parteivordere macht sie in seinem Appell zur „vaterländischen Intelligenz“, die nun die Wiedergeburt Rußlands vollbringen soll. Mit fortschreitender Zeit greift Sjuganow dann doch zu größeren Kalibern. Die Regierenden in Moskau, schon Gorbatschow, seien Erfüllungsgehilfen des Westens gewesen. Für einen Apfel und ein Ei hätten sie Rußland verhökert. Verräter! Aufgebracht dreht sich eine ältere Frau zu ihrer Nachbarin um: „Und dafür werden sie nicht einmal erschossen!“ Dann fährt Sjuganow fort: „Als der Westen merkte, daß Gorbatschow seinen Job erledigt hatte, machte er Jelzin zu einem demokratischen Helden, obwohl ein Blick in sein Gesicht reicht, um festzustellen, daß Demokratie dort nicht eine Nacht verbracht hat.“ Man lacht hohn und klopft sich auf die Schenkel. Eine Generation, die den Verfall der Sitten beklagt.

Fast 35 Millionen der 150 Millionen Russen sind Rentenempfänger. 20 Millionen, schätzen Soziologen, gehen mit Sicherheit zur Wahl. Für die alte Generation wie den ehemaligen Chemiker eines Rüstungsbetriebes, Sergej Burin, ist es „ganz einfach seine Pflicht“. Den Löwenanteil der Stimmen der Rentner will Sjuganow für sich verbuchen, seine Chancen stehen nicht schlecht. Denn die mit 40 Mark mickrigen Durchschnittsrenten machen nur die Hälfte des offiziellen Existenzminimums aus. Fünfmal wurden im Laufe dieses Jahres die Renten angepaßt, ein sechstes Mal soll es kurz vor den Wahlen geschehen. Ob das die Grantigen unter den Alten dem Kreml noch gnädig stimmt, ist fraglich. Sie fühlen sich um den Verdienst ihres Lebens gebracht. Verloren haben sie auch die UdSSR, die als Supermacht niemand in Frage stellte. Welche Mängel auch immer herrschten, so konnte man sich doch wenigstens damit identifizieren. „Die da oben haben den Niedergang und den Zerfall der Sowjetunion verschuldet“, meint ein 67jähriger ehemaliger Ingenieur kategorisch. In der Zwischenzeit versucht ein „echter Kommunist“ – wie er sich lauthals bezeichnet – zum Podium vorzudringen, um dem Vorsitzenden einen Zettel zu reichen. Die „richtigen Kommunisten“ halten den Vorsitzenden für einen bourgeoisen Rechtsabweichler. Derartige Vorfälle stellen für die Saalordner keine Herausforderung dar. Er wird kurzerhand hinausbefördert.

Anatolij Abraschkin ist einer der wenigen Jüngeren bei der Versammlung. Sjuganow? „Er ist informiert, gebildet und spricht gut“, findet er. In seinen Augen verkörpert Sjuganow einen Profi und dazu noch einen ehrlichen: „Wenn er von der Tragödie Rußlands spricht, meint er es ernst, der Schmerz ist ihm anzusehen.“ Seit die Kommunisten den Patriotismus auf ihre Fahnen geschrieben haben, fühlt sich Anatolij zu ihnen hingezogen. Er steckt in einem alten, wohl seinem einzigen Anzug. Sein Aufzug ist selbst für die russische Provinz hilflos veraltet. Die Öffnung zur Kirche war für ihn, einen Gläubigen, dann das ausschlaggebende Moment. Der Physiker ist kein Antiwestler. Rußland wieder in die Isolation zu führen, lehnt er ab. Patriotismus, das ist für ihn „ein Besinnen auf die eigenen Traditionen“. Anatolijs Frau arbeitet im Handel und unterstützt ihren Mann. Das macht dem 36jährigen arg zu schaffen. Als Wissenschaftler noch um Födermittel zu konkurrieren, hält er für falsch. Der Staat müsse dafür aufkommen. In Wissenschaftlerkreisen steht Anatolij nicht allein. „Ich war nie Parteimitglied“, beteuert er. „Unter meinen Bekannten gibt es viele, die aus der KP ausgetreten sind und nun wieder zurückwollen.“ In seiner Altersgruppe äußerte sich ein Fünftel der kürzlich Befragten positiv zur KP. Unter den Älteren ab 55 favorisieren hingegen knapp die Hälfte die Partei.

Am Abend in Dserschinsk, einer ehemals geschlossenen Stadt des Rüstungssektors, steigt Sjuganow noch einmal auf die Bühne: Ein Drittel der Betriebe hat hier die Produktion eingestellt. Doch wieder sind es vornehmlich Rentner, die Sjuganow hören wollen. Er spult das gleiche Programm ab. Dann übergibt er Wassilij Starudubzew von der Agrarpartei, die sich in den Regionen mit den Kommunisten auf eine Reihe gemeinsamer Kandidaten geeinigt hat, das Wort. Starodubzew gehörte im August 1991 zu den Putschisten gegen Gorbatschow. Der Kolchosvorsitzende malt ein düsteres Bild und prognostiziert die Verknappung und Verteuerung von Eiern, Milch und Brot. Ein Raunen geht durch den Saal. „Um Gottes willen, das ist die einzige Information, die sie mit rausnehmen!“ stöhnt eine junge Frau. „Morgen gibt es tatsächlich keine Eier mehr, weil sie hamstern werden.“ Erschrocken über ihre Respektlosigkeit, fängt sie sich gleich wieder: „Sollen die Alten etwa wieder über unser Leben entscheiden...?“

Die Fragerunde beginnt. Vorab hatte die Veranstaltungsleitung gebeten, Fragen schriftlich einzureichen – aus praktischen Gründen und um den Vorsitzenden nicht mit Wiederholungen aufzuhalten. Und siehe da, es sind haargenau dieselben Fragen, dieselben Worte in unveränderter Reihenfolge – ganz wie in Nischnij Nowgorod.

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