Wo Haß und Liebe tanzen

■ Ein merkwürdiges Paar im Bremerhavener Ballett: „Carmen“ und die „Carmina Burana“

Es ist der Publikumsmagnet dieser Spielzeit: Das Bremerhavener Ballett um den charismatischen Brasilianer Ricardo Fernando hat sich mit dem Doppelprogramm „Carmen/Carmina Burana“ an die Spitze der Aufmerksamkeit getanzt. Keine Oper, kein Schauspiel, nicht einmal die unverwüstliche „West Side Story“ können im Großen Haus der Stadttheaters mit vergleichbarem Zuspruch rechnen.

Zweieinhalb Jahre nach Antritt der Arbeit ist das Ballett zum heftig pulsierenden Herz des Theaters geworden. Mit seiner Choreografie zu „Carmen“ hat Ricardo Fernando einen unverkennbar eigenen Stil geflinden. Zu der von Rodion Schtschedrian (1967) bearbeiteten Ballett-Suite von George Bizet erzählt er eine bitter-zarte Geschichte der Leidenschaft. „Weg von Folklore, von Spitzenschuhen und von großer Oper“, sagt er dazu. Er kleidet seine zwölf TänzerInnen in schlichtes Schwarz, er läßt sie mit hochlehnigen Stühlen hantieren, auf die sie sich zurückziehen, wenn im Vordergrund Don José (Ronaldo Navarro im Wechsel mit Ricardo Fernando) und Carmen (Emi Suzuki) wilde Annäherungen wagen, oder wenn Bruno Mora als Escamillo seinen Balztanz beginnt. Für den italienischen Solotänzer hat Fernando eine ebenso kühne wie komische Form gefunden. Die musikalischen Synkopen setzt er in eine komplizierte Schrittechnik um, aber die Aura dieses kahlköpfigen Tänzers mit den großen Augen und seinen bis ins letzte durchgearbeiteten Bewegungen überstrahlt jede Machismo-Karikatur.

Regisseur Fernando mischt Elemente des klassischen Balletts mit zeitgenössischen Formen, die er – so sagt er – unmittelbar aus der Musik heraushört. Er drückt den Tänzern nichts auf, sondern holt während der Proben aus ihnen heraus, was sie ihm anbieten. So entsteht der Eindruck des Organischen, einer fließenden Schönheit, mit der Liebe, Schmerz, Haß und Gewalt zum Tanzen gebracht werden.

Wenn der personifizierte Tod als graugeschminkter, halbnackter Mann (Augusto Geremia) gravitätisch durch die Szene schreitet, ist dies Bild so überzeugend, daß der Gedanke an Kitsch verfliegt. Mit Carl Orffs „Carmina Burana“ aber stößt der Regisseur an die Kapazitätsgrenzen des Stadttheaters. 70 SängerInnen, ein Kinderchor und zwei Flügel müssen auf der Bühne untergebracht werden. Die Lösung der Bühnenbildnerin Odilia Baldszun ist sinnfällig: Der große Chor steht auf einer Empore, unter der sich für jeden Tänzer eine Tür öffnet. Die imponierende Säulenhalle paßt zu Orffs kräftigen Rhythmen, für die Fernando einen Reigen aus wechselnden Männer-, Frauen- und Paar-Szenen geschaffen hat. Aber hier wird der Raum zum Tanzen häufig zu klein. Und die Bilder erzählen keine Geschichte, sie illustrieren die bewegten Tonmassen.

Am Schluß erscheinen Bruno Mora und Simone Togni nackt auf der Bühne, Adam und Eva, die sich in großen Spiegeln erkennen und schämen. Auf den Rausch der Musik antwortet der Ballettchef mit einem naiven Bilderrausch.

Fernando gibt zu, daß er mit Orff vor allem beweisen wollte, „daß Tanz Tanz ist und ganz allein gewinnen kann“. Power, starke Gefühle, Kraft, elementare Leidenschaften – das sind seine Worte. Er ist ein Spieler, der auf der Bühne „physisch denkt“ und mit seiner Ausstrahlung alle ansteckt. Hier hat er das Spiel gewonnen. Nach acht ausverkauften Vorstellungen – mit regelmäßigen Schlangen an der Abendkasse um die letzten zurückgegebenen Karten – wird das Tanzstück in den kommenden Monaten gerade noch fünfmal wiederholt. Aber der Intendant Peter Grisebach muß aufpassen, daß er seine Trumpfkarte nicht für jede Operette und jede Oper erneut zieht. Hans Happel