: Die Rolltreppe zur Hölle Von Ralf Sotscheck
Keinen Tag fürchten die DublinerInnen mehr als den 8. Dezember: „Culchie Day“ in der irischen Hauptstadt. „Culchies“ sind Landpomeranzen, und weil die meisten Dubliner Familien vor zwei, drei Generationen selbst noch welche waren, ist ihnen die Unterscheidung heute um so wichtiger. Deshalb belegen sie sämtliche Landbewohner mit dem geringschätzigen Kollektivbegriff – nach dem Dorf Kiltimagh in der Grafschaft Mayo, wo nach fester Überzeugung der Dubliner die Welt endet. Jedenfalls schließen am 8. Dezember, dem Tag der unbefleckten Empfängnis, sämtliche katholischen Schulen, damit die Landeier zum Weihnachtseinkauf in die Hauptstadt können.
Jedes Jahr richten die Culchies in Dublin ein Verkehrschaos an. Die Einheimischen bleiben an diesem Tag zu Hause, sofern sie keine Verwandten vom Land haben, denen sie den Weg zu den Schnäppchen weisen müssen. Diesmal erwischte es auch uns: Onkel Mick, Tante Nora und Tochter Martina rückten aus Timahoe an, einem mittelirischen Dorf. Es war das erste Mal seit mehr als 30 Jahren, daß sie zu Weihnachten in die Großstadt kamen. Damals, so erzählt Micks Schwester Annie gehässig, hatten sie ein furchtbares Erlebnis. Annie, die schon als Teenager nach Dublin gezogen war, hatte die Verwandten vom Bahnhof abgeholt und ihnen von einer sensationellen Neuheit berichtet: Eisentreppen, die sich nach oben und unten bewegen.
Tante Nora hatte das zunächst auf übermäßigen Alkoholgenuß ihrer Schwägerin zurückgeführt, doch als sie dann die Rolltreppe im Kaufhaus Clery's erblickte, brach ihr der Angstschweiß aus. Sie war davon überzeugt, daß jenes Wunderwerk schnurstracks in den Himmel oder in die Hölle führe – je nach Laufrichtung. Auch als Annie viermal hinaufschwebte und danach stets zurückkehrte, wirkte das keineswegs vertrauensfördernd. Um den Familienfrieden war es endgültig geschehen, als Annie die Schwägerin einfach auf die Rolltreppe schubste. Nora kreischte so laut, daß ein Angestellter die Notbremse zog.
Seitdem machte man die Weihnachtseinkäufe lieber in der Kreisstadt – bis letzten Freitag. Leider hat sich die Angst vor Rolltreppen bei ihnen bis heute nicht gelegt. So hielten sie sich gegenseitig hinten am Mantel fest und tappten wie die Enten durch die Kaufhäuser und deren garantiert unbewegliche Treppenhäuser. Es kam, wie es kommen mußte: Nachdem Tante Nora im Vorbeigehen schnell einen Hut aufprobiert hatte, erwischte sie den falschen Mantelzipfel. Weil der Mantelträger ebenfalls ein Culchie war, machte es ihn nicht mißtrauisch, daß sich jemand von hinten in seinen Mantel verkrallte. Erst draußen auf der Straße bemerkten sie das Mißgeschick, kehrten wieder um und suchten den jeweiligen Ehepartner.
Es dauerte eine Stunde, bis Nora ihren Mick fand. Er hatte vor Aufregung einen Asthma-Anfall erlitten und sich in der Schuhabteilung auf einen Stuhl fallen lassen. Eine listige Verkäuferin schwatzte dem 77jährigen im Handumdrehen ein paar rote Cowboystiefel auf. Da hatten die Culchies genug von der Großstadt und flohen zurück nach Timahoe. Ob der Träger des falschen Mantelzipfels seine Frau jemals wiedergefunden hat, ist mir nicht bekannt.
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