: Videos wider das Vergessen
■ Im Haus der Wannseekonferenz entsteht ein einzigartiges Videoarchiv mit Erinnerungen von Überlebenden des Holocaust. 300 Stunden Aufzeichnungen
Das gedruckte Wort könne mündliche Überlieferungen keineswegs ersetzen, sagt Julius H. Schoeps, Historiker und Leiter des Potsdamer Moses-Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien (MMZ). Deshalb erstellt sein Institut zur Zeit eine für Deutschland einzigartige Geschichtsdokumentation: ein Holocaust-Archiv im Videoformat. Überlebende der Shoah aus Berlin und Brandenburg werden bis zum Ende nächsten Jahres vor der Kamera aus ihrem Leben während der Nazi-Diktatur berichten. Die Aufzeichnungen mit einer Länge von fast 300 Stunden sollen im Haus der Wannseekonferenz gesammelt und aufbewahrt werden. Professoren, Dozenten und Lehrer sollen sie zu wissenschaftlichen und pädagogischen Zwecken nutzen können.
„Diese mündlichen Quellen muß man archivieren, solange das noch möglich ist“, so Schoeps. Bereits Anfang dieses Jahres begaben sich seine Mitarbeiter in Berlin und Brandenburg auf die Suche nach Überlebenden des Holocaust. Mit Anzeigen in jüdischen Gemeindeblättern hatten sie bald Erfolg. Siebzig Zeitzeugen erklärten sich zu einem Gespräch vor der Kamera bereit. Die meisten sind zwischen 60 und 75 Jahre alt. Einige von ihnen überlebten die Konzentrationslager, andere versteckten sich während der Nazi-Diktatur im Berliner Untergrund oder flüchteten frühzeitig ins Exil.
Vierzig Interviews wurden bereits aufgezeichnet. „Einigen brennen die Erlebnisse von damals geradezu auf der Seele“, sagt Schoeps. Vielen falle es allerdings schwer, ihre schmerzlichen Erinnerungen öffentlich preiszugeben. Zwanzig Interviewer führen die Gespräche, darunter Mitarbeiter des MMZ, Dozenten und Studenten der Potsdamer Universität und der Freien Universität sowie Therapeuten. Durchschnittlich vier Stunden erzählen die Zeugen des Nazi-Terrors aus ihrem Leben. Ende Januar sollen die ersten Videobänder dem Haus der Wannseekonferenz übergeben werden. Bewußt wählte das MMZ für die Archivierung den Ort aus, an dem die Nazis 1942 die „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen.
Die Idee für das Videoprojekt stammt aus den USA. Die sogenannte „Oral History“ hat sich dort inzwischen als Form der Geschichtsdokumentation etabliert. Wissenschaftler der Yale University in New Haven begannen bereits 1982 mit der Befragung von Holocaust-Überlebenden vor der Videokamera. Inzwischen haben sie 3.500 Zeitzeugenberichte in Amerika und Europa gesammelt. „Gerade die Subjektivität der Schilderungen entzieht sich der spröden Faktizität herkömmlicher Historisierung“, sagte der Leiter des Yale-Archivs, Geoffrey Hartman, kürzlich bei einem Besuch in Potsdam. Seine Erfahrungen hätten gezeigt, daß viele der Interviewten noch nie ausführlich über ihre persönlichen Erlebnisse gesprochen hätten.
„Für Deutschland ist das Videoarchiv ein Pilotprojekt“, so Schoeps. Mit den bewegten und bewegenden Bildern will er „pädagogische Erinnerungsarbeit“ leisten. Die mündlichen Überlieferungen versteht er als Ergänzung zu den Mahn- und Gedenkstätten in den ehemaligen Konzentrationslagern. Die Planungen für das Holocaust-Mahnmal am Potsdamer Platz kritisiert Schoeps dagegen. Weder mit der Dimension noch mit der Konzeption und Gestaltung des Entwurfs ist er einverstanden. „Insbesondere habe ich etwas gegen die Hierarchisierung von Opfergruppen.“ Nach den bisherigen Plänen soll die Gedenkstätte nur an die ermordeten Juden, nicht aber an die Sinti und Roma, die Homosexuellen und die politischen Opfer erinnern.
Mit der Denkmal-Kritik weist Schoeps allerdings auch auf eine Lücke in seinem Archiv hin: Alle Befragten sind jüdischer Abstammung. „Theoretisch ist es denkbar, das Archiv auch auf Angehörige anderer Opfergruppen zu erweitern“, so Schoeps. Dies sei allerdings eine Geldfrage. Das Projekt werde vorerst nur bis Ende 1996 von der VW-Stiftung gefördert. Michael C. Fischer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen