: Mündigkeit und Normalität
■ betr.: „Viel Pazifismus bleibt nicht übrig“ von Sibylle Tönnies, taz vom 5. 12. 95, „Die Grünen zwi schen Krieg & Frieden“, taz vom 1. 12. 95
„Pazifismus“, so sprach Wolfgang Neuss, einst der Hausphilosoph der taz, „ist auch nur eine Reaktion darauf, daß es Gewalt gibt.“ Ob garantiert die richtige, weiß man also nicht.
Das gilt natürlich auch für das Gegenteil. In diesem Zusammenhang ist wichtig, daß Joschka Fischers persönliche Erinnerung auf dem Parteitag an die antifaschistischen Ideale seiner Jugend lediglich im Wettstreit der Deklamationen zu verstehen ist: „Seht her! Auch in meiner Brust schlägt ein fühlendes Herz“, nicht aber die Begründung darstellte. Wäre der Militäreinsatz nur durch die Toten von Srebrenica begründet, kann man natürlich dagegenhalten: Sie werden dadurch nicht wieder lebendig, und Völkermorde sind in der gesamten Geschichte – und nicht nur in der Moderne, wie Sibylle Tönnies in ihrem Kommentar behauptet – so häufig, daß man praktisch dauernd in Kriege zu ihrer Abwehr verwickelt wäre. Die dann vielleicht erst recht zum Völkermord führen. All das muß man – mit allen Risiken – vernünftig abwägen und nicht nach dem Glaubensbekenntnis entscheiden.
[...] Es geht weniger um einen falsch verstandenen Begriff von Reife, Männlichkeit oder Normalität, oder ob man sich an das Tötungstabu wagen soll. Es geht um die Frage, ob Nato-Truppen in Bosnien zu einem größeren Konflikt führen oder ihn eher vermeiden. Mit anderen Worten, es geht weder um grundsätzliche philosophische oder soziologische Fragen, weder um Bekenntnisse noch um Haltungen, sondern um die angemessene Form, wie dieser Konflikt entschärft werden kann. Wenn ein Soldat wie Rabin Frieden schließt und ein Pazifist wie Fischer einen Militäreinsatz befürwortet, liegt es an den unterschiedlichen Situationen, die sie zu lösen haben.
[...] Die Haltung Fischers ist nicht, wie Tönnies glaubt, ein unreifes moralisches Sicherheben über andere, sondern eine Mündigkeit oder „Normalität“, von der sie – indem sie es als Männlichkeitsgetue denunziert – nicht möchte, daß Frauen oder Männer in diesem Lande sie erlangen. Lieber vertraut Sibylle Tönnies auf „Kainszeichen“ oder „Tabus“ und überläßt alle Fragen von Leben und Tod den bereits in der „Internationalen“ hinreichend gekennzeichneten höheren Wesen. Bernhard Becker-Braun, Essen
Frau Tönnies verbrät da ziemlichen Schwachsinn, find' ich. Sollen da nun lieber bosnische Kinder und „Halbwüchsige“ auf die Minen treten? – dann wären die schließlich auch aufgeräumt, die bosnischen Kinder und die Minen oder was oder wie – anstatt einigermaßen trainierte Pionier-Profis, auch aus der Bundesrepublik, diese entschärfen zu lassen, die bosnischen Kinder und Halbwüchsigen und ihre Minen, mein' ich. Oder so.
Also, ich bitte sehr darum, daß ich solchen Quark nicht mehr lesen muß. [...]
Möge sich Frau Professor lieber mehr um das Verbot zur Herstellung von Minen und deren Verkauf kümmern. [Wieso soll sich Frau Tönnies darum kümmern? Das wäre doch wohl „Hausaufgabe“ der Bundesregierung (oder der Herren und Damen Fischer & Co.), die sich ja mal mit demselben Engagement, wie um den Bosnien- Einsatz der Bundeswehr, um die „Minen-Frage“ kümmern und jeglichen Waffenexporten endlich Einhalt gebieten könnte(n)! Noch bevor in Bosnien auch nur eine einzige Mine von welchen „Halbwüchsigen“ auch immer entschärft ist, hatte mann doch nix Eiligeres zu tun, als das (sowieso nie eingehaltene) Waffenembargo aufzuheben. Damit den „trainierten Pionier- Profis“ nicht das Übungsterrain abhanden kommt. Oder so. d.sin] Martin Mausshardt, Reutlingen
Die taz hat ja mittlerweile in der Bosnien-Debatte einiges ermöglicht und tut es weiterhin. Aber daß ein Kommentar wie der von Sibylle Tönnies möglich sein werde, haben sicher nicht mehr viele für möglich gehalten. Ziemlich einzigartig, daß unter „Kommentar“ läuft, was eigentlich eine Klarstellung und Darlegung von Fakten über den Pazifismus und seine Wurzeln ist. Aber so genau wollte das der Herr Fischer sicher gar nicht wissen, der, wie Freund Jochen sagt, „die Grünen kaputtmacht“. Ich würde sagen, eher die traurigen Reste einer Partei, die mal angetreten ist, einiges so ziemlich anders zu machen. [...] Richard Kelber, Dortmund
[...] Wir leben nicht in einer Welt, die uneingeschränkt von der Vernunft geprägt ist. Folglich funktioniert diese Welt auch nicht immer mit den Mechanismen der Vernunft, der logischen Notwendigkeiten. Kein vernünftiger und freiheitsliebender Mensch mag das Militär. Militärs haben ebenfalls nichts für die Freiheit übrig. Je militarisierter eine Gesellschaft, desto undemokratischer ist sie. Aber was ist, wenn wir mit Problemen konfrontiert werden, die man nur noch mit militärischen Mitteln angehen kann, um sie überhaupt irgendwie zu lösen? Wie sollen wir sonst einen Völkermord beenden? Bin ich gleich ein Kriegstreiber, weil ich in meiner Empörung und Abscheu über diese Grauenhaftigkeiten entschiedene Maßnahmen einklage? Mit ihrer stark mäßigenden Haltung provozieren die Pazifisten nur unnötig das Ohnmachtsgefühl, das angesichts solcher Grausamkeiten sowieso schon in dieser Gesellschaft herrscht; diese Ohnmacht führt nur zu Indifferenz und Zynismus.
Fakt ist, daß nun das Militär den Friedensprozeß bewachen soll – mehr kann und darf es nicht tun. Es ist nur gerecht, daß sich auch Deutsche daran beteiligen. Niemand, der diese Beteiligung gutheißt, tut das ohne innere Widersprüche. Kaum ein Bündnisgrüner hat, von der Historie abgesehen, die Bundeswehr sonderlich gerne; kaum ein Christ oder Freidemokrat ist bereit, die Waffenexporte zu beenden, die solche Konflikte erst möglich machen. Aber im Interesse der Menschenrechte muß die Linke den Mut haben, diesen Widerspruch, der durchaus tragbarer ist als der christlich-liberale, auf sich zu nehmen; die Gegner dieser Einsätze haben diesen Mut nicht, sie wollen vielmehr ihren überkommenen Nachkriegsvorstellungen nachhängen; die Etikettierung „Linke“ ist daher nicht angemessen. [...] Malte Neumann, Moers
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