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Straßenbahn mit Meersicht

„de lijn“ bedient die 65 Kilometer kurze belgische Nordseeküste von de Panne nach Knokke: schnell, pünktlich, ökologisch. Ein Tram-Ritt durch den hochfrequentierten Urlaubswesten Belgiens  ■ Von Günter Ermlich

Straßenbahn-Endhaltestelle „Esplanade“ im belgischen Badeort de Panne. An der Querwand des gläsernen Wartehäuschens klebt ein großformatiges Urlaubsposter: drei kleine Felsen im Meer, türkisblaues Wasser, ein Motorboot und ein Badender, weißer Strand. Das portugiesische Fremdenverkehrsamt wirbt für die Algarve. Urlaubsgefühle. Dagegen ist die Wirklichkeit hier vor Ort beinhart. Der ausladende Appartementblock vis- à-vis, neun Stockwerke hoch – einfach nicht zu übersehen. Unten residiert die „Agence Leroy“. „Residentie Pieter Bortier te koop“ steht auf einem Schild am Betonklotz. „1–2 Slaapkamer: 2.280.000– 2.580.000 Fr“ (114.000 bis 129.000 Mark). Geschenkt.

Nachsaison-Kehraus an der belgischen Nordseeküste. Die weißen Strandhütten sind längst verwaist. Omis schieben ihre EnkelInnen im Kinderwagen auf der breiten Promenade von de Panne spazieren. Davor der Strand, der sich auf 400 Meter ausbreitet, wenn das Wasser während der Ebbe zurückweicht. Genug Platz für die sportiven Strandsegler. Die Fluchtdistanz der wohlgenährten Möwen ist erstaunlich gering. Am südlichen Ende der Strandpromenade steht das steinerne Mannsbild von Leopoldus Primus, der 1831 als erster Regent der konstitutionellen Monarchie Belgien gekrönt wurde. Den Rücken vom Meer weg gewandt, starrt er regungslos auf das Ensemble der neungeschossigen Hochhauskästen, in deren Erdgeschoßzeilen sich Tea-Rooms, Restaurants, Tavernen, hin und wieder mit Glasvorbauten, befinden.

„de lijn“, wie die Straßenbahnlinie auf flämisch heißt, fährt vor. „Einmannbedienung, 191 Plätze“, lese ich beim Einsteigen. Die Straßenbahn bedient die gesamte belgische Nordseeküste, von de Panne an der französischen Grenze im Süden bis Knokke an der niederländischen Grenze im Norden. Sie verkehrt im Halbstundentakt (während der Hochsaison alle 15 Minuten), von früh morgens bis spät abends. 127 Minuten wird sie für die 65 Kilometer brauchen, 65mal haltmachen. Und einige überraschende Ein- und Ausblicke in die Befindlichkeit des belgischen Küstenlebens bieten. „Zicht op Zee“ („Freie Sicht aufs Meer“) verheißt die kleine Fahrplanbroschüre. Ich nehme einen Fensterplatz links.

Zunächst durchquert „de lijn“ das geschäftige Zentrum von de Panne. Beidseitig der Einkaufs- und Freßstraße grelle Leuchtreklame, mal flämisch, mal französisch für die köstlichen belgischen Kartoffelstäbchen, für Pannekoeken und Gaufres und sonstige Gourmetfallen wie Vishandel und Chocolatiers. In den Fenstern verlassener Appartements hängen Schilder von Immobilienfirmen: „te huur“ (zu vermieten) und „te koop“ (Kauf mich!).

Hinter Koksijde steige ich zum ersten Mal aus. Am Straßenrand sind kurz hintereinander zwei Schiffe in den Dünensand gesetzt: das Passagierschiff „Normandie“ mit Landebrücke, Bullaugen, drei roten Schornsteinen und die „Peniche“ in Form eines Lastkahns. Beide sind Bootshotels und nie zur See gefahren. Anfang dieses Jahres – in Belgien ist vieles möglich – wurden die beiden Schiffsimitate unter Denkmalschutz gestellt. Meine hellblau gestrichene „Drink for winners“-Tram begegnet der weißen Gegenbahn „Pant's/Socks“. Sie sind rollende Werbeträger, ganz wie die Straßenbahnen in Lissabon. Während aber die Lissabonner „Eléctricos“ immer mehr zu Museumsbähnchen verkommen, rollt „de lijn“ für Einheimische wie Touristen, ganz auf der Höhe der Zeit, die Küste rauf und runter: schnell, pünktlich, ökologisch. 1886 fuhr die erste dampfgetriebene Straßenbahn zwischen Middelkerke und Oostende. 1897 wurde sie elektrifiziert.

Haltestelle Nieuwpoort Bad. Ein gutes Dutzend gelber Kräne ballt sich auf engstem Raum. Ihr Auftrag: die Aufzucht immer neuer Bettenburgen. Nieuwpoort Bad, wohl die größte Baukrandichte gleich hinter Berlin, Potsdamer Platz. Augen zu und durch! Als hätte die Tram meine visuelle Pein vernommen, wendet sie sich von der Küste ab und schwenkt ins Zentrum von Nieuwpoort. Ein bedeutender Yachthafen mit 2.200 Liegeplätzen. Vor den langen Fischhallen geht der „Vishandel Willy“ mit der „Frituur Albert“ (die aus der Tüte herausragenden Pommes-Stäbchen ähneln den Zacken einer Königskrone) eine intensive Geruchsehe ein.

Die Tram passiert an der Ysermündung ein Säulenrondell mit dem Reiterstandbild König Alberts I. in der Mitte. Auf Initiative von alten Kombattanten des Ersten Weltkriegs errichtet und 1938 eingeweiht. Ich erklimme die kreisrunde Aussichtsplattform. Direkt darunter sind sechs Schleusen der Yser im Halbrund angeordnet. Beim Rundblick kommt mir Jacques Brel in den Sinn: Mein plattes Land, mein Flandernland. Brels Hymne an seinen Landstrich und an die flämischen Mädels („Marieke“ und wie sie alle heißen). Ein Lautsprecher bringt Geschichtsunterricht vom Band, über „die entscheidende Rolle des wenig bekannten Flüßchens Yser und über die vergeblichen Bemühungen der deutschen Armee, Nieuwpoort einzunehmen.“ Dank des Flußschiffers Hendrik Geeraert wurde die deutsche Offensive gestoppt. Im Oktober 1914 öffnete er die Yserschleusen: 700.000 Kubikmeter Meerwasser überschwemmten bei Flut die Region, so daß sich die belgische Armee unter König Albert I. bis zum Kriegsende hinter der Yser verschanzen konnte.

Ein Stück weiter, in Fahrtrichtung links, sind ein mit Stacheldraht abgegrenztes Militärcamp und der benachbarte Campingplatz „Casino Palace“ in die Dünenlandschaft integriert. Nächster Stopp ist Middelkerke. Ein schwarzuniformierter „Sheriff“ trampelt auf seinem Rad, links den Knüppel, rechts die Knarre, hinten zwei Satteltaschen. Regelmäßig biegt er zur Meeresfront ab, um nach dem Rechten zu sehen. Gegenüber vom Restaurant „mort subite“ (plötzlicher Tod) hält er ein Schwätzchen mit einer alten Frau, deren Hündchen im Bastkorb zittert. Middelkerke (6.500 Einwohner, im Sommer ein paar mehr) ist gleich mit vier deutschen Orten verschwistert: Ettlingen, Rauschenberg, Buchenbeuren und Sohren. Dabei würde es – architektonisch betrachtet – eher mit Berlin-Mahrzahn als Partnerstadt harmonisieren. Die endlos lange Wand eines zehnstöckigen Appartementkomplexes baut sich vor der Meeresfront auf. „Zicht op See?“ Die urbane Verdichtung des belgischen Küstenstreifens mit postmodernen Tourismusfördertürmen ist bis zur allerletzten Konsequenz vorangetrieben. „Überall an der Küste macht sich ein neuer Urlaubstrend bemerkbar... Viele Urlauber ziehen es vor, Appartements zu mieten, statt in Hotels zu leben. Neubauten mit Appartements schossen deshalb wie Pilze aus dem Boden“, heißt es schon 1980 im Belgien-Heft von Merian.

Das einzig Strukturelle der ungezügelten Bauwut liegt hier in der Abwesenheit jeglicher Struktur. Auch eine nachträgliche Verschönerungskur findet nicht statt. Keine Fassadenbegrünungen, keine bepollerten Fußgängerzonen. Aber ist diese Grundhaltung nicht sympathischer als die krampfhaften Anstrengungen andernorts, einmal Versautes – der ökonomischen Not gehorchend – mit Schminke zu übertünchen?

Mehr noch: Der Vergnügungsbetrieb im offenen Freizeitpark der flämischen Costa del betón boomt. Können jährlich 20 Millionen Tagesausflügler irren? Diese Urlauber-Internationale von Belgiern, Niederländern, Engländern, Deutschen und Franzosen. Sie wollen nichts anderes als Eis lutschen, sich an der Strandhütte sonnen, Muscheln suchen am Wassersaum. Und dazwischen zieht „de lijn“ ihre Bahnen.

Hinter Middelkerke wird es plötzlich richtig schön. Zum erstenmal keine Sichtblende durch Verbauung, eben „Zicht op See“. Nur die gelbgepflasterte Strandpromenade und ein schmaler Sandstreifen trennen die Tram vom Meer. Eine mehrere Kilometer lange, schnurgerade Strecke. Jetzt zeigt „de lijn“, wie schnell sie sein kann: Mit annähernd 100 Stundenkilometern schlingert und schwankt sie wie der französische TGV Atlantique. In engen Abständen ragen die Wellenbrecher ins Meer. Im eingezäunten Terrain kommen in den Dünen Bunkerüberbleibsel des Atlantikwalls zum Vorschein.

Der große Meeresparkplatz in Mariakerke beherbergt fast nur Wohnmobile deutscher Provenienz, viel Ruhrpott darunter. Minuten später erreichen wir Oostende. Ein Mann in den besten Jahren, weißer Popelinmantel und Schiebermütze, setzt sich neben mich. Angeschwipst nach vollbrachtem Frühschoppen, kommentiert er wortreich die draußen vorbeiziehenden Sehenswürdigkeiten: das Hippodrom Wellington, die Thermalbadanlage mit Kolonnaden, das „Zwembad“, dann das Hotel „Villa Royale“. Albert II., der aktuelle König, erzählt mein Informant, wolle die einstmals königliche Residenz wiederhaben. Überhaupt haben die Belgier royale Namen für alles: Koningin Astridlaan, Frituur Albert, Residentie Baudouin, Leopold III. Plein, Camping Fabiola ...

Aus den Glamourjahren, 1850 ff., als sich die europäische Aristokratie im mondänen Badeort Oostende die Klinke in die Hand gab, hat die selbsternannte „Königin der Strände“ nicht viel in die Gegenwart hinübergerettet. Ein Blick auf den Oktober-Spielplan des Casinos mit Konzertsaal (Herbert von Karajan: „Die beste Akustik der Welt“) genügt: Internationale Katzenshow, The Temptations, Techno-Rave-Party! Heute lebt Oostende von der Masse: Fremdenverkehr und Fährbetrieb.

Halbzeit. Nach 65 Minuten hält „de lijn“ in Oostende Station. Pinkelpause für den Fahrer? Nein, nur Fahrerwechsel. Im benachbarten Fährhafen schieben sich Autos in die dickbauchige „Sally“ mit Ziel Ramsgate. Auch „de lijn“ wird jetzt proppenvoll. Schulkinder, auffällig viele Männer in schwarzen Lederjacken, zumeist Imitate. Die letzte Bank scheint für Liebespärchen reserviert zu sein.

Während der Tramfahrt erhasche ich nur flüchtige Blicke durch den Lichtkorridor der Stichstraßen, die zwischen den Hochhausblocks zur Promenade führen. Deshalb steige ich immer wieder aus, schlendere ziellos umher, schaue mich um. Und die nächste Straßenbahn-Haltestelle ist nie weit. Bredene aan Zee. Auf dem flaggenreichen Platz posiert eine bronzene Frauenfigur, überlebensgroß und nackt, den Hintern rausgestreckt, die Arme lasziv über dem Kopf verschränkt. Ein Stückchen weiter, vor dem „Tea Room Coconut“, stehen unvermittelt zwei echte Pferde. Zwischen ihnen zwei echte Frauen. Unablässig schwenkt die eine ihr Bierglas mit tiefbraunem Inhalt. Dann sitzen sie auf und reiten im Trott gen nirgendwo. Sicher auf einen der 48 Campingplätze in der näheren Umgebung.

„Risicoweg!“ lese ich auf einem Verkehrsschild, „Grün Ort“ auf einem anderen. Natürlich, ein Golfplatz. Die Driving Range, von zig weißen Hartgummibällchen übersät, liegt direkt neben der Tramstrecke. Jetzt folgt de Haan. Eine pittoreske Insel inmitten der Betonwüste. Das kleine Seebad hat den Charme der Belle Époque konservieren können, als es noch „Coq sur Mer“ hieß. Im früheren Wartehäuschen, Jugendstil von 1902, residiert heute das Tourismusbüro. Die Freiluftterrasse des „Hotel des Brasseurs“ gegenüber erscheint wie die verlängerte Plattform. Schmucke Villen im Cottagestil mit prächtigen Gärten reihen sich an grünen Alleen auf. Die französischen Namen der Villen zeugen von der Zeit, als die frankophone Bourgeoisie noch hierhin zur Sommerfrische kam. Warum haben ausgerechnet in de Haan die Lokalfürsten, Immobilienhaie und sonstigen Naturvergewaltiger noch nicht zugeschlagen?

Wenduine bietet dann wieder das vertraute Bild: zehnstöckige Hochhausfronten. Das schmale Fachwerkhäuschen „Edelweiß“ mit Geranienblumenkästen ist ein von den Betonriesen plattgedrücktes Pflänzchen. Ortsauswärts wird es dann richtig ländlich. Weite flandrische Wiesen, Kühe stampfen zur Tränke. In der Ferne sind die Kirchtürme von Brügge auszumachen. Kurvenreich schlängelt sich „de lijn“ durch Blankenberge. „Der ideale Ort für junge Familien und Jugendliche, die sich nicht langweilen wollen“, wirbt der Prospekt. Also Sport, Action, Amüsement. Cafés, Restaurants, Diskotheken zuhauf, alles konzentriert auf zwei Quadratkilometern. Und weil sich die Touristen sommers auf der Strandpromenade wie in der Rüdesheimer Drosselgasse drängeln, mußte sogar der freie Verkehr der beliebten vierrädrigen Tretroller drastisch eingeschränkt werden.

Hinter Blankenberge wechselt die Szenerie erneut. An die Stelle von Dünen und Wiesen treten die Hafenanlagen von Zeebrügge. Im Vordergrund das „Ocean-Container Terminal“ mit einer Armada von Verladekränen, im Hintergrund die Mole mit einer Reihe von Windrädern. Weil die Zugbrücke über den Schleusenkanal hochgezogen ist, macht „de lijn“ kurzerhand einen kleinen Umweg über die Ausweichbrücke.

Schließlich Knokke Station. Eine Gleisschleife mit Baumgruppe. Endstation eines abwechslungsreichen Tram-Ritts durch den wilden, hochfrequentierten Urlaubswesten Belgiens. Und wieder lockt das Algarve-Plakat des portugiesischen Fremdenverkehrsamtes am Wartehäuschen. „An der belgischen Küste ist jeder Kilometer schön“, schließt das Küsten-Kapitel im Belgien-Heft von Merian. „Dennoch zieht es deutsche Urlauber in andere, entfernter liegende Länder – vielleicht, weil Belgien zu nahe liegt.“ Vielleicht.

Info: „de lijn“ verkehrt ganzjährig. Die Tageskarte kostet 16 DM, die Dreitageskarte 27,25 DM, die Familientageskarte 37,75 DM. Mitnahme des Fahrrads ist für 4 DM möglich (nicht zur Rush-hour).

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