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Die Roaring Twenties der Psychoanalyse

Bloomsbury-Boheme I: „Der Professor läßt uns praktizieren.“ Die Briefe des Ehepaars Strachey zeigen, wie die Psychoanalyse zuerst im englischsprachigen Raum heimisch wurde – als experimentelle Lebenslehre für Exzentriker  ■ Von Michael Schröter

Strachey – das ist der klassische Literat Lytton Strachey, der in den „Eminent Victorians“ mit einer Epoche abrechnete. Es ist aber auch sein Bruder James, der Sigmund Freud im englischen Sprachraum als Autor eingebürgert und 1953 bis 1966 die Standard Edition besorgt hat – bis heute die beste Ausgabe von Freuds Werken. Was zunächst wie eine kognitive Dissonanz erscheint, verweist auf eine bemerkenswerte geistige und soziale Kreuzung.

Die Psychoanalyse machte ihre Karriere überall in Europa nicht so sehr im akademisch-medizinischen Raum als vielmehr in der breiteren Intellektuellenszene. Einen besonders prägnanten Ausdruck fand die Wirkungsgeschichte in England, in der Begegnung des legendären Bloomsbury-Kreises (zu dem unter anderen die Stracheys, Leonard und Virginia Woolf, der Ökonom Maynard Keynes und der Kunstkritiker Roger Fry gehörten) mit der organisierten Freud- Gruppe. Von dieser Begegnung geben die hier zu betrachtenden Briefe zwischen James Strachey und seiner Frau Alix ein lebendiges Zeugnis. Rotraut de Clerck hat sie stilistisch adäquat übersetzt, der biographische Kontext wird von den Herausgebern Meisel und Kendrick durch eine lange, vorzügliche Einleitung erschlossen.

Beide Korrespondenten waren Sprößlinge der englischen bürgerlichen Oberschicht und hatten in Cambridge ein geisteswissenschaftliches Studium absolviert. Sie verkehrten in einer Boheme mit ausgeprägten künstlerischen, sozialistischen und psychologischen Neigungen, wo man auch mit unorthodoxen Lebensformen – Homosexualität, Ehe zu dritt, Wohngemeinschaften – experimentierte. Nicht unähnlich den 68er Zeiten war dies ein Klima, das eine Rezeption der Psychoanalyse begünstigte. Sie erfolgte auf dem Weg des Lesens und Debattierens, außerhalb jeder professionellen Tradition.

Für Alix Strachey scheint sich die Frage einer regulären Berufswahl nie streng gestellt zu haben, und auch James zeigte in dieser Hinsicht wenig Energie. Zuerst arbeitete er als Rezensent. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sah er eine bessere Chance der Sinnerfüllung: Er versuchte aus seiner Begeisterung für Freuds Werk einen Beruf zu machen. Aber statt Medizin zu studieren, wie es ihm Ernest Jones, der führende Vertreter der Psychoanalyse in England, empfahl, wandte er sich an Freud und fragte, ob er bei ihm in Analyse gehen könne.

Freud nahm damals gern Ausländer an, die ihm inflationssichere Einkünfte brachten, und verlegte sich generell auf das Analysieren zu Ausbildungszwecken. Er akzeptierte James Strachey als Schüler-Patienten. Von Herbst 1920 bis Sommer 1922 war das jungvermählte Paar in Wien. Auch Alix machte eine Analyse bei Freud, die allerdings durch Krankheit unterbrochen wurde. Im Juni 1922 schrieb James an seinen Bruder Lytton: „Wir haben die Genehmigung des Professors erhalten, nun selbst zu praktizieren.“

Wilde Zeiten! Freud behandelt gleichzeitig einen Mann und seine Ehefrau. Keiner von beiden ist medizinisch oder sonst irgendwie einschlägig qualifiziert, aber nach zwei Jahren Lehranalyse beim Meister erteilt der ihnen eine Art informelles Diplom, das sie zur Aufnahme in die Britische Psychoanalytische Gesellschaft und zur Ausübung der Psychoanalyse berechtigt. Und mehr noch, Freud nutzt die Tatsache, daß er sprachfertige Engländer in Kur hat, zum eigenen Vorteil, indem er anregt, daß sie als seine Übersetzer tätig werden. Alles dies schlägt späteren Standards von Professionalität ins Gesicht.

Bis Sommer 1924 waren James und Alix Strachey damit beschäftigt, Freuds Krankengeschichten als Band 3 seiner „Collected Papers“ ins Englische zu übertragen. Nach Abschluß der Arbeit ging Alix für ein Jahr nach Deutschland, um am Berliner Psychoanalytischen Institut, das weltweit als das führende galt, ihre Ausbildung und bei Karl Abraham ihre Analyse zu beenden. Es ist interessant, wie sie auf der Basis doppelter Erfahrung betont, daß Abraham als Analytiker Freud überlegen sei. In der Zeit ihres Berlinaufenthaltes wurden die vorliegenden Briefe geschrieben.

Man kann sie als Liebesbriefe von zwei schwierigen Individuen lesen, die sich zur Zeit ihrer Trennung erst richtig bewußt wurden, wie sehr sie aneinander hingen. Andere Leser mögen eher die Schilderungen aus dem Berlin Mitte der zwanziger Jahre goutieren, wo die Straßenbahn von Grunewald bis Zentrum eineinhalb Stunden brauchte. Wieder andere können sich an vielen Bemerkungen über Kunst und Wissenschaft, von Diaghilews Ballett bis zu Köhlers Schimpansen, erfreuen, die von der international gebildeten und artikulationsfähigen Kennerschaft einer vergangenen sozialen Klasse zeugen. (Thomas Mann: „Einfach ein erstklassiger zweitklassiger Romancier.“)

Unterhalb aller großen Geistes- und Kulturgeschichte handelt es sich um den scharfzüngigen, klugen, unterkühlten Small talk von zwei Oberschicht-Engländern. Viel Klatsch auf hohem Niveau. Und Alix in Berlin, das ist auch die selbstbewußte Vertreterin der Zivilisation unter deutschen Barbaren. („Mit Ausnahme von Musik und Intellekt – was ja vielleicht alles ist – sind sie hoffnungslos. Sie haben einfach nicht die geringste Vorstellung davon, wie man lebt.“) Wenn einmal die Inhalte, um die es geht, obsolet geworden sind, wird dieser Aspekt der Strachey-Briefe immer noch reizvoll und instruktiv bleiben. Aber fürs erste bieten sie sich als eine Quelle zur Geschichte der Psychoanalyse dar. Die beiden Partner haben verschiedene Perspektiven: Er in London schreibt als ein Mitglied des Establishments seines Vereins, sie in Berlin als Gast und Auszubildende. Die Mischung aus Unprofessionalität und solidestem Ernst, die beide im Umgang mit der Psychoanalyse beweisen, gibt es so vielleicht nur in England.

James berichtet zum Beispiel über die Planungen für ein psychoanalytisches Ausbildungsinstitut, bei dem die nichtmedizinischen Analytiker herausgehalten werden sollten, um die offizielle Anerkennung nicht zu gefährden. Jones trete nur mit Rücksicht auf Freud, der die „Laienanalyse“ verteidigte, nicht offen gegen sie auf. Man freut sich über solche Blicke hinter die Kulissen der Macht. An anderen Stellen erfahren wir, wie Jones (der als Freud-Biograph einiges zur Politur seines Nachruhms tat) um die Alleinherrschaft in der englischen Psychoanalyse kämpfte und als Aufsteiger Schwierigkeiten mit den arroganten Bloomsbury- Kollegen hatte.

Historisch aufschlußreich ist, daß schon damals die Frage einer psychoanalytischen Pädagogik im Zentrum der Diskussion stand. In Cambridge wurde ein Art „Kinderladen“ gegründet, der spätere Erfahrungen mit der antiautoritäten Erziehung vorwegnahm: „Sie haben acht bis zehn Kinder im Alter von drei bis fünfeinhalb. Und alles, was dort zu passieren scheint, ist, ,daß man ihnen erlaubt zu tun, wozu immer sie Lust haben‘. Da sie aber vor allem Lust dazu haben, sich gegenseitig umzubringen, ist Mrs. Isaacs (die Kindergärtnerin) verpflichtet, von Zeit zu Zeit mit einer süßen, beruhigenden Stimme zu intervenieren: ,Timmy, bitte stecke diesen Stock nicht in Stanleys Auge‘.“

Was dagegen Alix zu erzählen hat, ist durch einen Blick von außen bestimmt. Unvergeßlich, wie sie mit Melanie Klein auf Faschingsbälle geht, sie im Pyjama, „die Melanie“ als Kleopatra, und dort auf die Doktoren Sachs, Simmel und Radó trifft. Aber ihre Urteile über den Lehrkörper des Berliner Instituts sind scharf und treffend. Sie reagiert so enthusiastisch wie sachgerecht auf die innovativen Thesen zur Kinderanalyse von Melanie Klein, sieht die Kontroversen, die es darum in Berlin gibt, und schreibt Wissenschaftsgeschichte, indem sie Melanie Kleins Wechsel nach England anbahnt, wo die energische Frau, sehr zum Unwillen Freuds, die tonangebende Figur der psychoanalytischen Gesellschaft wurde. Ein Dauerthema der Briefe sind die letzten Arbeiten an den Fahnen der Freud-Übersetzung. Strachey wird heute dafür gescholten, daß er Freuds Stil ins Szientifische verfälscht habe. Nach der Lektüre dieser Briefe muß man ihm ein wenig Abbitte tun. Er hat sich heftig, aber erfolglos, gegen die Worte „Ego“, „Super-Ego“ und „Id“ (für „Ich“, „Über-Ich“ und „Es“) gewehrt und sein Unbehagen für die Redeweise, die durch Freuds neue Strukturtheorie der zwanziger Jahre ausgelöst wurde – er nannte sie „Iddish“ –, deutlich zum Ausdruck gebracht.

Privatbriefe sind eine heikle Lektüre, da sie vieles als bekannt voraussetzen und entsprechend viel Hintergrundwissen und Einfühlungsbereitschaft verlangen. Wer sich davon nicht abschrecken läßt, kommt bei diesem Band auf seine Kosten.

Später ist die Psychoanalyse seriöser geworden. Aber damals, als sie sich mit der intellektuellen Avantgarde verbündete, war sie spannender.

Perry Meisel, Walter Kendrick (Hg.): „Kultur und Psychoanalyse in Bloomsbury und Berlin. Die Briefe von James und Alix Strachey 1924–25“. Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Rotraut de Clerck. Verlag Internationale Psychoanalyse (Klett-Cotta), Stuttgart 1995, 500 Seiten, gebunden, zahlreiche Abb., 88 DM

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